Schwanengesang (German Edition)
vergangenen Nacht hatte Marc praktisch kein Auge zubekommen. Er hatte wach in seinem Bett gelegen und gespürt, wie das Adrenalin unablässig in seine Adern strömte, und sich unruhig hin und her gewälzt. Melanie hatte nichts davon mitbekommen, sie war bereits vorgestern aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ins Gästezimmer umgezogen. Seit ihrem Gespräch im Arbeitszimmer hatte sie kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Aber der Zustand seiner Beziehung war momentan nicht Marcs Hauptproblem. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um Johanna Reichert. Marc hatte erst etwas Ruhe finden können, als er sich klargemacht hatte, dass bis jetzt nichts passiert war und er noch bis zur letzten Sekunde einen Rückzieher machen konnte.
Dieser Gedanke hatte ihn auch noch am Morgen auf seinem Weg zu Johanna Reicherts Anwesen begleitet. Yvonne hatte ihm geöffnet und ihn dann angemeldet. Marc hatte mit Heinen verabredet, dass sich außer Yvonne niemand im Haus aufhalten sollte. Keine Freundin, keine anderen Angestellten. Nur das Hausmädchen sollte anwesend sein, falls Johanna Reichert dringend Hilfe brauchte.
Nun wartete Marc in der Halle und verfluchte den Tag, an dem Heinen in sein Leben getreten war. Die Angst hielt seinen Magen wie mit einer Faust umklammert, seine Hände zitterten vor Adrenalin. Marc war kurz davor, zurück zu seinem Auto zu rennen. Aber er wusste auch, dass das Problem damit nicht gelöst war und sein Gewissen ihm keine Ruhe mehr lassen würde. Nein, er musste die Sache jetzt zu Ende bringen.
Marc zwang sich, kontrolliert und ruhig zu atmen, und nach ein paar Sekunden ließ die Panik tatsächlich nach.
Zwei Minuten später kam Yvonne die Treppe wieder her unter und teilte Marc mit, Johanna Reichert sei jetzt bereit, ihn zu empfangen. Marc wusste zwar nicht genau, inwieweit das Hausmädchen Bescheid wusste, aber wenn sie nicht vollkommen verblödet war, musste sie zumindest ahnen, dass hier etwas Ungewöhnliches vor sich ging.
Mit zitternden Knien folgte Marc Yvonne bis zum Schlafzimmer. Das Hausmädchen zog sich zurück und Marc trat ein.
Marcs erster Blick fiel auf die Videokamera, die auf einem Stativ etwa zwei Meter von dem Bett entfernt aufgebaut worden war.
Johanna Reicherts Rücken war mit mehreren Kissen gestützt, sodass sie aufrecht sitzen konnte. Im Gegensatz zu ihrem ersten Treffen sah sie beinahe gut aus. Ihr Atem ging ruhiger und um ihre Lippen spielte ein schwaches Lächeln. Die Haare waren frisch gewaschen und sie trug ein sauberes, makellos gebügeltes Nachthemd. Für einen Moment gestattete Marc sich die Hoffnung, sie habe es sich vielleicht doch anders überlegt.
Johanna Reichert winkte ihn zu sich und klopfte mit der Hand auf die Stelle des Bettes, auf die Marc sich setzen sollte. Marc tat ihr den Gefallen. »Sie sehen gut aus«, begrüßte er sie.
»Ich fühle mich auch gut«, gab sie zurück. »Weil ich weiß, dass mein Leiden heute zu Ende geht. Dank Ihrer Hilfe. Und wenn ich auf der anderen Seite ankomme, will ich doch wenigstens anständig aussehen. Wer weiß, wer mich dort drüben erwartet.« Sie lächelte erneut.
»Dann hat sich an Ihrem Entschluss also nichts geändert?«, vergewisserte sich Marc.
»Nein«, erwiderte Johanna Reichert energisch. »Meine Entscheidung steht seit Wochen fest. Ich habe mich von Heinen und Charlotte verabschiedet und für alles bedankt, was sie für mich getan haben.«
Marc war von Johanna Reicherts Ruhe und Bestimmtheit tief beeindruckt. Und in diesem Moment war er sich zum ersten Mal sicher, das Richtige zu tun.
Er stand auf und zog einen Sessel an das Bett heran. Dann ging er zu dem Camcorder und vergewisserte sich, dass die Kamera genau auf das Bett und den Stuhl ausgerichtet war. Er zoomte so lange, bis er den besten Bildausschnitt gefunden hatte. Anschließend kontrollierte er, ob eine Speicherkarte eingelegt war und testete das Mikrofon.
Als er alles gecheckt hatte, warf er einen letzten Kontrollblick auf das Display der Kamera und drückte die Aufnahmetaste. Aus seiner Aktentasche holte er ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber und setzte sich damit auf den Sessel neben dem Bett.
Marc wandte sich der Kamera zu. »Mein Name ist Marc Hagen. Ich bin Rechtsanwalt.« Er sah auf die Uhr. »Heute ist Mittwoch, der 7. März 2012. Es ist genau 9.29 Uhr.«
Dann wandte er sich Johanna Reichert zu. »Würden Sie bitte ebenfalls Ihren Namen sagen?«
Johanna Reichert folgte seinen Anweisungen und Marc konsultierte seine Blätter, auf denen er
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