Schwanengesang (German Edition)
Schultern und sie verließen gemeinsam den Saal.
»Ist unser Treffen eigentlich ein Zufall?«, fragte Marc, als sie vor dem Aufzug warteten.
»Zufall oder Schicksal, wer weiß das schon genau?« Heinen zeigte zwei perfekte Zahnreihen. »Ich soll heute als Zeuge eines Verkehrsunfalls beim Landgericht aussagen. Als ich hier ankam, hat mir der Richter mitgeteilt, dass sich meine Vernehmung um mindestens zwei Stunden verzögern wird. Die Gelegenheit habe ich genutzt, um mich ein wenig in den anderen Sälen umzusehen. Und so bin ich auf Sie gestoßen.«
In der Kantine holten sie sich jeder einen Kaffee und setzten sich damit an einen Fensterplatz.
»Nun«, setzte Heinen an. »Sie haben eben gute Arbeit geleistet. Und da ich ohnehin einen Juristen brauche, dachte ich, ich könnte mich auch gleich an Sie wenden.« Er machte eine Pause. Als Marc ihn abwartend ansah, sprach er schnell weiter. »Ich habe ein rechtliches Problem, das ich gerne mit Ihnen besprechen möchte.«
»Damit verdiene ich mein Geld«, erwiderte Marc. »Schießen Sie los.«
Heinen zögerte einen Moment. »Alles, was wir hier besprechen, bleibt doch unter uns, nicht wahr?«, vergewisserte er sich.
»Vollkommen«, versprach Marc.
Heinen nickte. Dann schaute er noch einmal über seine Schulter, als ob er sichergehen wollte, dass niemand zuhörte. Schließlich fuhr er mit leiser Stimme fort: »Wie gesagt, ich bin Arzt. Eine meiner Patientinnen ist an Magenkrebs erkrankt. Unheilbar. Sie hat nur noch kurze Zeit zu leben und leidet unter unerträglichen Schmerzen. Und ich meine: unerträglich. Vor etwa einem Monat hat sie mich das erste Mal gebeten, ihr dabei zu helfen, sich das Leben zu nehmen. Ich habe natürlich sofort abgelehnt, aber seitdem ist kein Tag vergangen, an dem sie mich nicht erneut gebeten, nein, angefleht hat, ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Schließlich habe ich mich bereit erklärt, mich zumindest einmal umzuhören, wie es damit überhaupt rechtlich aussieht. Und da kommen Sie ins Spiel.«
Marc war für einen Augenblick perplex. Mit einem derartigen Ansinnen war noch nie ein Mandant an ihn herangetreten. Er schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Heinen verstand sein Zögern falsch. »Wenn Sie aus religiösen, moralischen, rechtlichen oder anderen Gründen Bedenken haben sollten, mich zu beraten, sagen Sie es bitte gleich. Ich würde mich dann nach einem anderen Anwalt umsehen.«
»Das ist es nicht«, wehrte Marc ab. »Ich war nur überrascht. Die Diagnose Magenkrebs ist zu einhundert Prozent sicher?«
»Leider ja«, bestätigte Heinen.
»Und wie sieht die Lebenserwartung Ihrer Patientin aus? Sie sprachen von ›kurzer Zeit‹.«
»Genau kann das natürlich niemand sagen, aber die Krankheit befindet sich zweifellos im Endstadium. Eine Heilung ist ausgeschlossen. Vielleicht bleiben meiner Patientin noch ein paar Monate, vielleicht wenige Wochen. Tatsache ist, dass sie jeden Tag unter diesen unerträglichen Schmerzen leidet.«
»Können Sie ihr keine schmerzstillenden Medikamente geben?«
Heinen hob die Arme zu einer hilflosen Geste. »Ich muss gestehen, ich bin grundsätzlich kein Freund davon, meine Patienten mit diesen Chemokeulen vollzupumpen. Ich setze auf natürliche Behandlungsmethoden. Aber als ich in diesem Fall feststellen musste, dass keine Heilung mehr möglich ist, war ich natürlich auch bereit, mit Medikamenten zu helfen. Wir haben palliativmedizinisch alles ausprobiert, was es gibt. Nichts schlug an.«
»Und was genau erwarten Sie jetzt von mir?«
Bevor Heinen antwortete, warf er noch einmal einen schnellen Blick in alle Richtungen. »Falls, also ich meine, falls ich mich bereit erklären sollte, meiner Patientin auf die … äh … von ihr gewünschte Art zu helfen, will, nein, muss ich mich zumindest rechtlich absichern. Verstehen Sie? Das moralische Problem ist für mich als Arzt schon groß genug. Ich bin dafür da, Menschen zu heilen, und fühle mich dem Eid des Hippokrates verpflichtet. Da will ich nicht noch Ärger mit der weltlichen Justiz bekommen. Man hört da ja so einiges.«
Marc rieb sich das Kinn. »Das ist in der Tat ein äußerst heikles Thema«, sagte er dann. »Zulässig wäre es auf jeden Fall, wenn Sie als Arzt eine weitere Behandlung unterlassen und dies dem Willen des Patienten entspricht, auch wenn die unmittelbare Phase des Sterbens noch nicht eingesetzt hat. Aber Ihr Problem geht ja einen Schritt weiter.«
»In der Tat. Meine Patientin möchte, dass ich aktiv
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