Schwanengesang (German Edition)
den Namen Heinen heute nicht das erste Mal gehört zu haben. Also tippte er ihn als Stichwort in die Suchmaschine ein und wurde nicht enttäuscht. Auf dem Bildschirm erschien eine wahre Flut von Ergebnissen. Schon als Marc sich durch die ersten geklickt hatte, stellte er fest, dass Heinen ein Mensch war, der polarisierte. Insbesondere in den Internetforen lieferten sich Anhänger und Gegner Heinens einen erbitterten Kampf. Die eine Hälfte hielt ihn für einen Heiligen, die andere für einen Scharlatan. Einige seiner Patienten fühlten sich von ihm betrogen und ausgenommen, andere waren fest davon überzeugt, sie seien durch ihn von Krebs und anderen schweren Krankheiten geheilt worden.
Marc brauchte fast eine Stunde, bis er einige halbwegs gesicherte Fakten zusammengetragen hatte: Der heute achtundfünfzigjährige Dr. Gerd Heinen war seit dreißig Jahren geschieden und hatte keine Kinder. Sein Medizinstudium hatte er in mehreren europäischen Ländern absolviert und für Examen und Doktorarbeit die besten Noten erhalten. Anschließend hatte er an hervorragenden Unikliniken als Internist und Onkologe gearbeitet, bis er schließlich vor etwa fünfzehn Jahren mit der Schulmedizin brach, sich alternativen Behandlungsmethoden zuwandte und seine eigene Praxis in Gütersloh eröffnete. Dort behandelte er neben ›normalen‹ Patienten auch obdach- und andere mittellose Menschen ohne Bezahlung, die sich eine Behandlung bei ihm nicht hätten leisten können. Seit neun Jahren vertrieb er zudem mit einem Geschäftspartner ein Heilmittel auf Ginsengbasis, das gegen viele Krankheiten, insbesondere aber gegen Krebs, helfen sollte. Schulmediziner behaupteten, dieses Mittel sei vollkommen wirkungslos, wie zahlreiche wissenschaftliche Studien sowohl im Tierversuch als auch in klinischen Tests ergeben hätten. Trotzdem behauptete Heinen steif und fest, seine Medizin habe zahllosen Patienten das Leben gerettet.
Vor drei Jahren war Heinen in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit geraten, als er ein damals zwölfjähriges krebskrankes Mädchen namens Jennifer behandelt hatte. Auf Rat Heinens hatten Jennifers Eltern die Chemotherapie abgebrochen und Heinen hatte versucht, dem Mädchen mit seinen Methoden zu helfen. Anfangs verkündete er große Erfolge und behauptete, den Krebs besiegt zu haben, doch ein Jahr später starb das Kind. Die offizielle Obduktion ergab, dass ein Krebstumor Todesursache gewesen war. Heinen hielt an seiner Diagnose fest, das Mädchen sei nicht an Krebs gestorben, sondern aufgrund der Fehler der Schulmediziner.
Marc schaltete den PC ab. Er beendete seinen Arbeitstag früher als gewöhnlich – er konnte sich ohnehin nicht mehr auf seine Fälle konzentrieren. Also meldete er sich bei seiner Sekretärin ab und verließ die Kanzlei.
Um fünf Uhr schloss Marc seine Haustür auf. Er hatte das Einfamilienhaus vor acht Monaten fast ohne Eigenkapital gekauft und mit einer Hypothek finanziert, die er die nächsten dreiunddreißig Jahre abstottern musste.
Marc hätte es nie für möglich gehalten, dass er einmal als Spießer in einem Reihenhaus enden würde, aber seitdem er Melanie Schubert vor dreieinhalb Jahren kennengelernt hatte, hatte sich alles in seinem Leben verändert. Und so wohnte er jetzt mit seiner Freundin und deren zehnjähriger Tochter Lizzy in seinem Heim mit IKEA-Einrichtung, in dem sie gemeinsam alt werden wollten. Und irgendwie freute er sich sogar darauf.
Marc betrat das Wohnzimmer und warf seine Jacke auf das Sofa. Normalerweise wurde er jetzt stürmisch von Lizzy in Empfang genommen, aber heute ließ seine Tochter sich nicht blicken. Wobei Lizzy das leibliche Kind von Melanie und ihrem ersten Mann war, also streng genommen gar nicht ›seine‹ Tochter.
Er ging nach oben in den ersten Stock und stellte nach einem Blick in Lizzys Zimmer fest, dass es leer war. Nebenan lag das Arbeitszimmer von Melanie, die konzentriert auf den Monitor ihres Laptops starrte und gleichzeitig die Tastatur bearbeitete. Melanie verkaufte Kinderbekleidung im Internet und versuchte so, das Haushaltseinkommen aufzubessern.
Marc beobachtete sie eine Weile, dann trat er leise von hinten an sie heran. Er roch den Duft ihres Apfelshampoos und küsste sie auf den Scheitel.
»Oh, du bist schon da?«, begrüßte Melanie ihn überrascht.
»Habe ich Sie bei irgendetwas gestört, Frau Schubert?«, fragte Marc mit gespieltem Misstrauen. »Ich hoffe, ich muss nicht im Kleiderschrank nachsehen.«
Als Antwort erntete er nur ein
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