Schwanengesang (German Edition)
Wartezeit von mehreren Minuten war Marc sich sicher, dass ihn niemand gehört hatte. Also wuchtete er sich wieder die Hauswand hoch, griff durch das Loch im Glas, entriegelte das Fenster von innen und stieß es auf.
Dann wischte er einige Glasscherben aus dem Weg und quetschte sich durch die Öffnung. Er sprang ab und landete in einer Art Gäste-WC mit Dusche.
Marc lauschte erneut und zählte dabei bis hundert, aber außer seinem pochenden Herzschlag war kein Geräusch zu hören. Mit angeschalteter Taschenlampe machte er sich daran, Heinens Haus zu erkunden.
Vom Gäste-WC gelangte er in einen Flur, von dem mehrere Räume abgingen. Im gesamten Haus war es stockdunkel. Marc blieb in der Tür zum großzügigen Wohnzimmer mit angrenzendem Essbereich und offener Küche stehen. Er ließ den Strahl der Taschenlampe einmal durch den gesamten Raum wandern, bis der Lichtkegel eine aufgeschlagene Fernsehzeitung auf dem Couchtisch erfasste. Marc las das Datum: 11. März. Die Zeitung war offenbar seit über drei Wochen nicht bewegt worden.
Marc verließ das Wohnzimmer und warf einen Blick in die restlichen Räume des Erdgeschosses, ohne etwas Bemerkenswertes zu finden. Dann nahm er die Treppe in den ersten Stock. Der erste Raum war Heinens Schlafzimmer, das von einem breiten Bett beherrscht wurde. Marc kontrollierte den Kleiderschrank, der fast eine gesamte Wand einnahm. Nichts schien zu fehlen. In einer Nische neben dem Kleiderschrank waren zwei Koffer übereinandergestapelt. Im Badezimmer bestätigte sich sein Eindruck, dass Heinen nicht verreist war: Auf der Ablage über dem Waschbecken entdeckte Marc eine Zahnbürste, Zahnpasta, Rasiercreme und Rasierklingen.
Hinter der nächsten Tür lag Heinens Arbeitszimmer. Marc schwenkte mit der Taschenlampe den Raum ab. Das Licht wanderte über einen Schreibtisch, einen Drehsessel, sowie mehrere Regale und eine Reihe Bilder an der Wand.
Marc versuchte nachzuvollziehen, an welcher Seite des Hauses das Arbeitszimmer lag. Er war sich sicher, dass es nicht zur Straße hin ausgerichtet war. Außerdem war ja die Jalousie heruntergelassen. Er konnte das Risiko eingehen und das Deckenlicht einschalten.
Erst jetzt sah er das gesamte Ausmaß der Verwüstung: Auf dem Fußboden lagen Schubladen, Bücher, zerbrochene Bilderrahmen, Glassplitter, Papiere aller Art und Aktenordner, die aus den Regalen gerissen worden waren, wild ver streut auf dem Boden. Auf dem Schreibtisch stand ein Flachbildmonitor, dessen Verbindungskabel zu dem dazugehörigen PC im Nichts endeten. Die Polizei hatte praktisch alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Marc fühlte sich sofort an die Durchsuchung seines Hauses und seiner Kanzlei erinnert. Allerdings hatte es Heinens Haus wesentlich schlimmer getroffen. Die Beamten waren zwar nicht verpflichtet, nach einer Hausdurchsuchung aufzuräumen, aber meistens gaben sie sich zumindest Mühe, nicht allzu viel zu zerstören. Die Tatsache, dass die Polizisten sich diesmal kein bisschen um den angerichteten Schaden geschert zu haben schienen, ließ nur einen Schluss zu: Sie gingen nicht davon aus, dass Heinen jemals wieder in dieses Haus zurückkehren würde.
Obwohl es hier offensichtlich nicht mehr viel zu entdecken gab, machte Marc sich daran, die Schubladen des Schreibtisches zu durchwühlen. Doch er fand nichts.
Marc richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bilder an der Wand. Es handelte sich ausschließlich um gerahmte Fotos, die nur eine Gemeinsamkeit hatten: Der Hausherr war auf allen zu sehen. Heinen mit ostwestfälischen Lokalgrößen, Heinen mit einem ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Heinen mit einem ehemaligen Bundespräsidenten, Heinen mit einem ehemaligen Bundeskanzler. Allerdings keine Fotos von Heinen mit von Neuendorff. Marc fiel auf, dass es sich fast ausschließlich um Berühmtheiten handelte, die nicht mehr im Amt oder bereits verstorben waren, während Aufnahmen mit aktuellen Politikern fehlten. Erfolgreiche Politiker hatten im Allgemeinen ein feines Gespür dafür, wann sich ein gemeinsames Foto lohnte und wann es sogar schaden konnte.
Daneben gab es einige Aufnahmen mit Lebewesen, die sich nicht mehr aussuchen konnten, ob sie fotografiert werden wollten oder nicht: ein kapitaler Hecht, eine schwere Forelle, ein riesiger Wels, alle stolz von Heinen auf den ausgestreckten Händen der Kamera präsentiert.
Marc richtete sein Augenmerk auf das Chaos auf dem Boden. Es war kaum anzunehmen, dass darunter etwas
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