Schwanengesang (German Edition)
und drückte mit der Schulter gleichzeitig vorsichtig gegen die Tür. Und tatsächlich: Sie war nicht abgeschlossen.
Marc zögerte erneut. Wenn Heinen noch hier war, konnte er jetzt nicht mehr entkommen. Es gab keinen Hinterausgang, die Vordertür war die einzige Möglichkeit, die Hütte zu verlassen. Seinen ganzen Mut zusammennehmend rief er: »Herr Dr. Heinen, sind Sie hier?«
In Zeitlupe drückte Marc die Tür weiter auf. Als sie etwa dreißig Zentimeter weit offen stand, schlug ihm ein entsetzlicher, süßlicher Gestank entgegen. Marc hatte vor Jahren als Nachlasspfleger für das Amtsgericht Bielefeld gearbeitet. In dieser Funktion hatte er mehr als einmal Wohnungen durchsuchen müssen, in denen Leichen teilweise mehrere Wochen bis zu ihrer Entdeckung gelegen hatten. Aus diesem Grund erkannte er den charakteristischen Geruch sofort: Hier war ein Lebewesen gestorben und verwest.
Marc überwand seinen Ekel und den aufsteigenden Brechreiz. Obwohl er wusste, dass es kaum etwas bringen würde, hielt er die Hand vor die Nase und stieß die Tür mit einem Tritt ganz auf. Die schräg stehende Nachmittagssonne stand direkt hinter ihm und fiel in das Innere der Hütte, in der es vollkommen dunkel war. Marc verfluchte sich dafür, dass er vergessen hatte, seine Taschenlampe mitzunehmen.
Als seine Augen sich an das diffuse Halbdunkel gewöhnt hatten, nahm das Innenleben der Hütte langsam Gestalt an. Marc erkannte, dass sie aus einem einzigen, etwa sechs mal fünf Meter großen Raum bestand. An einer Wand zog sich eine kleine Küchenzeile entlang, an der Wand gegenüber stand ein großer Schrank, daneben lehnten zahlreiche Angeln. An der dritten Seite befand sich eine schmale Pritsche. Zwei Sofas standen sich im Zentrum der Hütte gegenüber, auf dem Tisch dazwischen vergammelte Essen auf einem Teller. Der gesamte Raum war erfüllt mit Tausenden Fliegen, die überall umherschwirrten.
Marc suchte nach einem Lichtschalter. Als er ihn fand, sprang eine wattschwache nackte Glühbirne an der Decke an, die nur wenig zur weiteren Erhellung der Szenerie beitrug.
Marc hielt die Luft an, dann wagte er sich langsam weiter vor. Mit jedem Schritt wurde der Verwesungsgestank stärker und unerträglicher. Marc war sich jetzt sicher: Der tote Körper, egal ob es sich um eine menschliche Leiche oder einen Tierkadaver handelte, musste noch hier sein. Für einen Moment war Marc versucht, einfach aus der Hütte herauszulaufen, die Tür hinter sich zuzuschlagen und die Polizei zu alarmieren. Aber die Neugier war stärker. Er tastete sich Schritt für Schritt vor, bis er zwei beschuhte Füße entdeckte, die hinter einem Sofa hervorragten.
Marc zwang sich, um das Sofa herumzugehen. Zuerst sah er eine Jeans, dann ein Holzfällerhemd und schließlich den Kopf des Menschen, der dort tot auf dem Boden lag. Genau genommen sah er den Kopf nicht. Dort, wo er das Gesicht vermutete, hatte sich eine lebendige Wolke aus Fliegen niedergelassen, eine krabbelnde schwarze Masse. Um den Kopf herum hatte sich eine getrocknete, tiefdunkle Blutlache gebildet, daneben lagen kleine, graue Häufchen, die Marc für ausgetretene Hirnmasse hielt.
Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte und schlug schnell die Hand vor den Mund. Im letzten Moment konnte er sich beherrschen. Die Spurensicherung würde nicht begeistert sein, wenn er seinen Mageninhalt am Tatort eines Mordes entleerte.
Die Leiche war zweifellos männlich, so viel konnte Marc erkennen, aber es war unmöglich zu sagen, wer hier lag. Womöglich fand er in den Hosentaschen des Toten einen Ausweis oder Führerschein, aber dazu müsste er ganz dicht an ihn heran und ihn eventuell umdrehen. Abgesehen davon, dass ihm vor dieser Tätigkeit graute, würde die Polizei auch darüber nicht in Jubelschreie ausbrechen.
Aber dann fiel sein Blick auf die linke Hand des Toten und Marc wusste sofort, dass er sich eine Durchsuchung des Leichnams sparen konnte. Den protzigen Siegelring, den der Mann am kleinen Finger trug, erkannte Marc sofort.
Er hatte Dr. Heinen gefunden.
Teil 3
Endspiel
36
Seit seinem Ausflug zu der Fischerhütte war eine Woche vergangen. Marc hatte unmittelbar, nachdem er Heinen gefunden hatte, die Polizei mit seinem Handy angerufen, und schon nach kurzer Zeit waren die ersten Beamten eingetroffen. Eine Polizeiüberwachung hat also auch ihr Gutes, dachte er.
Als die Kriminalpolizei am Tatort erschienen war, war Marc einer ersten Befragung unterzogen worden. Er berichtete, was er wusste, dann
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