Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
anderer Wagen näherte sich. Der grüne Geländewagen von Manfred Kabritzky, Marius Grauweilers Neffen, der den Hof geerbt hatte. Der Wagen hielt genau an der Stelle, an der zuvor das Auto der Frau geparkt hatte. Manfred stieg aus, auch die Beifahrertür öffnete sich, eine junge Frau gesellte sich zu ihm. Wollten die beiden etwa auch etwas von ihr? Was nur? Was war bloß heute los?
Anna bemerkte, dass ihre Hände zitterten und rieb sie energisch an der Schürze ab. Sie straffte die Schultern und nahm sich vor, ihre Gedanken festzuhalten und sich zu konzentrieren. Auf keinen Fall wollte sie noch ein Gespräch führen, von dem sie überhaupt nichts mitbekam, das ihr das Gefühl vermittelte, in einem Strudel aus Worten und Gedankenfetzen zu ertrinken. Entschlossen trat sie an den Zaun, um die beiden Besucher zu empfangen. Doch schon nach zwei Schritten schob sich erneut eine ungewollte Erinnerung vor ihr Blickfeld, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufwenden, um nicht darin zu versinken.
*
Katrin schob das Gartentor auf und lächelte freundlich. Die Frau, die mit merkwürdig starrer Körperhaltung im Vorgarten stand, musste Anna Henk sein. Sie hatten bei den nächsten Nachbarn des Grauweilerhofs nachgefragt, wer im Dorf Kontakt zu Marius gehabt habe. Die junge Familie wusste nicht viel, da sie erst vor einigen Jahren hergezogen war, und hatte sie an Anna Henk verwiesen, eine alte Frau, die wohl schon ihr ganzes Leben in Kestenbach wohnte. Die könne ihnen bestimmt weiterhelfen.
Als Katrin nähertrat, bemerkte sie, dass die Frau jünger war, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Von Weitem hatte sie ausgesehen wie über neunzig, doch in Wahrheit war sie vermutlich gerade siebzig. Die altmodische Schürze und das weiße, zu einem Knoten hochgesteckte Haar hatten Katrin in die Irre geführt.
»Frau Henk?«, fragte sie und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Katrin Sandmann, und das ist Manfred Kabritzky.« Sie deutete auf Manfred, der ein Stück hinter ihr stehen geblieben war.
»Der Neffe von Marius Grauweiler, ja«, sagte die Frau. »Ich erinnere mich an Sie.« Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht und verschwand sofort wieder.
»Wir haben gehört, dass Sie schon immer hier in Kestenbach gelebt haben.« Katrin strahlte die Frau an. »Ein wunderschöner Ort. Sicherlich haben Sie viele Geschichten zu erzählen.«
»Ich weiß nichts.« Anna Henk strich mit den Händen über ihre Schürze. Sie verhielt sich wie jemand, der etwas zu verbergen hatte und sich dabei äußert ungeschickt anstellte. Doch was sollte die alte Frau zu verbergen haben?
Katrin überschlug im Kopf die Jahre. Anna Henk musste bei Kriegsende noch ein Kind gewesen sein, wenn sie nicht sogar erst nach 1945 geboren war. Sie konnte weder mit Johanna Grauweiler noch mit der Mumie etwas zu tun haben. Aber vielleicht wusste sie etwas? Katrin warf Manfred einen raschen Blick zu. Der hob die Schultern.
Katrin räusperte sich. »Wir haben gehört, dass es in Kestenbach spuken soll. Ein Dämon treibt hier sein Unwesen, oben am Grauweilerhof. Haben Sie den Dämon schon einmal gesehen?«
Anna Henk zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Hinter ihrer Stirn schien es zu arbeiten. »Sie sollten auf der Hut sein«, sagte sie dann, an Manfred gewandt. »Mit dem Dämon ist nicht zu spaßen.« Wieder strich sie über ihre Schürze. »Es gibt ihn wirklich. Mein Bruder hat ihn mit eigenen Augen gesehen.« Sie reckte das Kinn hoch. »Vor dem Schuppen. Er war schwarz wie die Nacht, und seine Augen glühten in der Dunkelheit.«
»Bestimmt hat Ihr Bruder sich sehr erschreckt.« Katrin legte so viel Wärme wie möglich in ihre Stimme.
»Allerdings hat er das. Leibhaftig einem Wesen aus der Unterwelt zu begegnen, ist kein Spaß.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Johanna war eine sehr unglückliche Frau.«
»Die Johanna?«, fragte Katrin nach.
»Na der Dämon, das ist doch die Johanna.« Anna Henk schüttelte den Kopf. »Johanna Grauweiler, Marius’ Mutter. Die Toten müssen anständig bestattet werden. Mein Karl wurde anständig bestattet. Gott hab ihn selig.« Sie schlug das Kreuz.
Katrin versuchte einzuhaken, bevor die Frau völlig in ihren Erinnerungen versank. »Karl war Ihr Mann, ja? Kannte Karl Marius Grauweiler? Waren die beiden vielleicht befreundet?«
»Ganz friedlich und sauber sah er aus«, antwortete die Frau. »Ganz friedlich und sauber.«
Katrin spürte, wie Manfred sie an der Schulter berührte. »Wir sollten gehen«,
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