Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Jahren tot. Sie ist schon als junges Mädchen gestorben.«
»Du weißt, was mit ihr passiert ist?« May hielt seine Hände fest.
Er schluckte. Solche Gespräche waren nicht seine Stärke. Aber er wollte sich nicht hinter Katrin verstecken, schließlich ging es um seine Familie. Behutsam erzählte er May alles, was sie über die Mumie wussten. Nachdem er geendet hatte, war es lang still.
»Mein armer Vater«, sagte May schließlich. »Sie war also längst tot, als er herkam, um sie zu suchen. Seine Reise war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
Manfred schluckte. Offenbar kam May nicht der Gedanke, der Katrin und ihm sofort gekommen war, nämlich, dass es aus diesem Grund sehr wahrscheinlich war, dass Marius Grauweiler etwas mit David Freemans Verschwinden zu tun hatte.
Katrin trat zu ihnen und setzte sich auf den Stuhl neben Rosemary. »Hast du eine Ahnung, wie sie hieß?«, fragte sie, ohne aufzublicken. »Das Mädchen, meine ich. Kannte dein Vater ihren Namen?«
May nickte. »Ja. Angelika und er haben ihn sogar zusammen ausgesucht. Sie hieß Cornelia.«
Eine Weile blieben alle stumm, dann trat May zu Rosemarys Gepäck, nahm die Handtasche und zog einen vergilbten Umschlag hervor. »Das ist das letzte Lebenszeichen meines Vaters, ein Brief, den er am Tag vor seinem Verschwinden abgeschickt hat. Ich lese ihn euch vor, ich versuche, ihn so genau wie möglich ins Deutsche zu übersetzen:
› Dear daughters – Liebe Töchter,
endlich habe ich das Haus gefunden, wo Angelikas Familie lebt, endlich habe ich eine erste Spur eurer Schwester. Es handelt sich um einen Bauernhof in einem kleinen Dorf mit dem Namen Kestenbach, ganz im Westen Deutschlands, in der Nähe der belgischen Grenze. Marius Grauweiler lebt dort, ihr Bruder, zu dem sie damals unsere Tochter gebracht hat. Er hat sich all die Jahre um das Kind gekümmert. Leider scheint er ganz allein dort zu wohnen, von einem Mädchen auf dem Hof weiß niemand im Dorf etwas. Vielleicht ist sie ja längst verheiratet und hat eine eigene Familie. Immerhin ist sie inzwischen 27 Jahre alt. Eine junge Frau! Ich hoffe, sie lebt noch, ich hoffe, es geht ihr gut. Morgen werde ich Marius Grauweiler aufsuchen. Bei ihm werde ich eine Spur meiner Tochter finden, sie kann schließlich nicht einfach verschwunden sein.
In Liebe
Euer Vater‹«
May ließ das Blatt sinken. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er war so voller Hoffnung.« Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihrer Jeans, nahm die Brille ab und tupfte sich die Augen trocken. Dann setzte sie die Brille wieder auf. »Der Brief ist auf den 6. August datiert. Einen Tag später verschwand mein Vater. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist.«
Katrin erhob sich und legte May die Hände auf die Schultern. »Das stimmt nicht«, sagte sie leise. »Es muss jemanden geben, der es weiß. Dein Vater ist nicht verunglückt, sonst hätte man ihn irgendwann gefunden. So unzugänglich sind die Wälder der Eifel nicht. Also hatte er eine letzte Begegnung, eine Begegnung, die vermutlich tödlich endete.«
»Wenn ich doch nur endlich Gewissheit hätte«, antwortete May leise.
»Ich werde die Wahrheit herausfinden«, versprach Katrin. »Ich bin ganz gut darin, Geheimnissen auf den Grund zu gehen.«
Manfred biss sich auf die Lippe. Es fiel ihm schwer, Katrins Eifer nicht zu bremsen. Nur Mays dankbares Gesicht hielt ihn davon ab, einzuschreiten. »Wir sollten aufbrechen«, sagte er sanft.
»Gute Idee«, antwortete Katrin. »Es gibt jede Menge zu tun und einen Haufen Leute, mit denen ich reden muss. Anfangen werde ich mit Anna Henk. Ich bin sicher, dass sie gar nicht so verwirrt ist, wie sie tut, und dass sie mehr weiß, als sie uns bisher erzählt hat.«
*
Wenn er in der Eile sein Handy nicht vergessen hätte, säße sie jetzt ahnungslos mit ihrer Freundin Agnes beim Italiener. Eigentlich waren sie heute zum Essen verabredet. Agnes war ihre älteste Freundin, sie hatten gemeinsam Medizin in Düsseldorf studiert, Agnes hatte sich auf Anästhesie spezialisiert und eine Anstellung in einer Klinik in Bonn bekommen, sie selbst war niedergelassene Gynäkologin. Ausgerechnet. Sie hatte es sich nie gestattet, über ihre Berufswahl nachzudenken. Wenn jemand fragte, sagte sie immer, sie sei da hineingerutscht, weil sie an der Uni an einem Forschungsprojekt mitgearbeitet habe. Aber es fragte selten jemand. Und warum sie selbst keine Kinder habe, das wagte erst recht keiner zu fragen. Das ging schließlich niemanden etwas
Weitere Kostenlose Bücher