Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
plötzlich misstrauisch.
»Damals. In dem Sommer.« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich glaube, ich weiß, was passiert ist. Ich habe dich gesehen. Und ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst.«
Einen Moment lang starrte er sie nur an. Dann veränderten sich seine Gesichtszüge, als habe ihn eine plötzliche Erkenntnis überrascht. Seine Augen flackerten unruhig. Er reckte den Hals, blickte über sie hinweg. »Sind Sie allein?«
»Natürlich.« Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. Sie war doch seit Jahrzehnten allein.
»Kommen Sie rein!« Er packte sie grob am Arm und zerrte sie ins Haus. Drinnen drehte er ihr die Arme auf den Rücken und schob sie zur Kellertreppe. Benommen taumelte sie vor ihm her, im Nacken spürte sie seinen keuchenden Atem. Er versetzte ihr einen Stoß, sie stolperte hinunter und prallte am Fuß der Stufen mit dem Kopf gegen die Wand.
Dabei hatte sie wohl das Bewusstsein verloren, denn sie hatte keine Erinnerung daran, wie er sie gefesselt und geknebelt hatte. Doch genau das musste er getan haben. Deshalb konnte sie ihre Arme nicht bewegen, deshalb hatte sie das Gefühl, nicht richtig Luft zu bekommen.
Anna schloss die Augen, es machte keinen Unterschied, sehen konnte sie in der Dunkelheit ohnehin nichts. Kalte Angst schnürte ihr die Brust zusammen. Warum hatte Klaus das mit ihr gemacht? Was hatte sie gesagt, das ihn so aus der Fassung gebracht hatte? Und was hatte er jetzt mit ihr vor?
*
Katrin fuhr hoch. »Verdammt.« Ihr Herz schlug wild.
»Was ist denn los? Hast du schlecht geträumt?«, fragte Manfred neben ihr verschlafen. Es war schon hell draußen, doch es musste noch sehr früh sein. Außer dem Zwitschern der Vögel war nichts zu hören.
»Mir ist eingefallen, was mich gestern so irritiert hat. Wir müssen sofort nach Kestenbach fahren.« Sie schlüpfte aus dem Bett und tapste ins Bad. Hinter sich hörte sie Manfred grummeln. Sie beschloss, seinen Protest zu ignorieren, für lange Erklärungen war später noch Zeit. Er würde auch so mitkommen, schon allein aus Neugier. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um richtig wach zu werden, putzte die Zähne und fuhr sich mit der Bürste durch das Haar.
Zehn Minuten später saßen sie fröstelnd in Manfreds Wagen. Der Himmel war klarblau, doch die Luft noch eisig.
»Also, was ist los?«, fragte Manfred, während er das Auto auf die Straße lenkte.
»Als ich gestern Abend durch das Fenster in das Haus von Anna Henk blickte, stand der halb fertige Abwasch auf der Spüle«, begann Katrin.
»Was? Das ist alles?«
»Moment.« Katrin hob beschwichtigend die Hand. »Das Spülbecken war randvoll mit Wasser, eine einzelne Tasse stand in dem Gestell zum Abtropfen. Eine Schürze hing über dem Stuhl. Eine Frau wie Anna Henk geht nicht ins Bett oder aus dem Haus und lässt die Küche in diesem Zustand zurück.«
»Woher willst du wissen, was für eine Frau Anna Henk ist?«, warf Manfred ein. »Du hast sie doch nur einmal kurz gesprochen.«
»Natürlich kenne ich sie nicht näher. Aber ich habe den Rest der Küche gesehen. Alles penibel aufgeräumt.«
»Und was ist deiner Meinung nach geschehen?«, fragte Manfred.
»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie gestürzt und liegt irgendwo im Haus mit gebrochenem Bein. Vielleicht hat sie etwas gehört oder gesehen und ist kopflos rausgelaufen.« Katrin hob die Schultern. Die andere Idee, die ihr noch im Kopf herumspukte, behielt sie lieber für sich: Vielleicht hatte Anna Henk 1974 etwas beobachtet, das ihr jetzt durch die aktuellen Ereignisse wieder eingefallen war, und vielleicht hatte sie damit jemanden in Bedrängnis gebracht. Falls das zutraf, schwebte die alte Frau in Lebensgefahr.
Sie passierten die Ortseinfahrt, und Manfred lenkte den Wagen an den Straßenrand. Das Haus lag dunkel und still da. Katrin kam ein Gedanke. »Hat sie nicht ihren Mann bei einem Arbeitsunfall auf dem Feld verloren? Das hier sieht gar nicht wie ein landwirtschaftlicher Betrieb aus, sondern wie ein kleines Einfamilienhäuschen. Hat sie damals woanders gewohnt?«
Manfred nickte. »Wenn ich das richtig verstanden habe, hat sie den Hof nach dem Tod ihres Mannes verkauft. Allein hätte sie ihn wohl kaum bewirtschaften können. Keine Ahnung, was sie danach gemacht hat.«
Katrin stieg aus und schaute sich um. Die meisten Häuser waren noch dunkel, doch in zweien brannte bereits Licht. Eine Katze schlich über die Straße. Irgendwo brüllte eine Kuh. »Weißt du, auf welchem Hof sie damals
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