Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
müsse es sich orientieren.
Sie zog sich den Baum hinauf. Der Wolf entdeckte sie und sprang los. Leichtfüßig erreichte er ihren Fluchtbaum und warf sich hinauf. Sie schrie auf, als seine Zähne dicht unter ihrem Stiefel zuschnappten. Panisch floh sie höher. Erst, nachdem sie gut drei Meter hinaufgeklettert war, blickte sie zurück.
Es war der größte Wolf, den sie je gesehen hatte. In seinen Augen lagen Bosheit und Verstand. Etwas an seinem Blick erschien ihr lauernd. Der Wolf setzte sich in den Schnee und sah zu ihr herauf. Das war nicht das Verhalten, das sie von einem wilden Wolf kannte. Sie hatte erwartet, dass er aufgeregt am Baum hochspringen, oder ungeduldig auf und ab gehen würde. Außerdem war das Tier allein. So sehr sie auch Ausschau hielt, sie konnte kein Rudel entdecken. Trotzdem fühlte sie keine Erleichterung. Der Wolf unter dem Baum sah stark genug aus, sie zu zerreißen. Er wog bestimmt mehr als sie, und wenn sich seine Zähne erst in ihr Fleisch senkten, war es zu Ende. Sie spürte Tränen über ihre gefrorenen Wimpern laufen.
„Warum?“, schluchzte sie leise. Hatte Gott seine schützende Hand endgültig von ihr fortgenommen? Musste sie der Verdammnis anheimfallen? Sie hatte sich immer bemüht, ein gutes Mädchen zu sein und eine gute Frau. Dass ihr Mann früh gestorben war, war nicht ihre Schuld, und für die Taten ihrer Mutter trug sie keine Verantwortung. Die Richter des Königs sahen das anders, aber Gott kannte die Wahrheit. Warum stand er ihr nicht bei?
Sie fühlte, wie entkräftet sie war. Die Augen drohten ihr immer wieder zuzufallen, selbst wenn sie weinte. Bald würde sie hinunterstürzen und der Wolf bekam sein Festmahl.
Schneeflocken setzten sich auf sie. Ein Leichentuch. Sie war schon tot. Es gab keine Hoffnung mehr. Sie sah, wie die Sonne hinter dem Wald unterging. Eine Nacht auf dem Baum würde sie nicht lebend überstehen. Entweder sie erfror, oder sie wurde gefressen. Wieder weinte sie. Krämpfe schüttelten ihren Körper. Sie schrie um Hilfe. Schrie nach Gott, fluchte und flehte. Aber sie wusste, dass da draußen niemand war. Nur der Wolf, der sie mit seinen quecksilbernen Augen ansah, als belustigten ihn ihre Wutanfälle und ihre Tränen.
Wach bleiben … am Leben bleiben … wach … bleiben … am …
Die Gedanken lösten sich auf in Dunkelheit.
Sie musste eingeschlafen und vom Baum gestürzt sein, denn das, was sie weckte, war ein harter Aufprall im Schnee. Sie schrie. Neben ihr sah sie den Wolf, der herumschnellte. Verzweifelt versuchte sie, aufzustehen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Der Wolf wog mindestens so viel wie ein erwachsener Mann. Sie sah die breiten Pfoten dicht vor ihrem Gesicht. Das Maul öffnete sich. Ein Geruch nach Aas und Verwesung streifte sie; eine feuchte Wärme, die auf der erfrorenen Haut schmerzte. Sie betete zu Gott, als der Wolf sich auf sie stürzte – und dieses Mal wurde sie erhört.
Der Schuss war so laut, dass sie zusammenfuhr, als habe man sie geschlagen. Der Wolf jaulte und wich zurück. Ein zweiter Schuss folgte. Dann ein dritter. Das Gewehr klang wie eines der königlichen Armee. So hatte es auch in Paris geklungen. Amalia schluckte. Waren sie ihr so weit gefolgt? War das nun das Ende? Würde man sie zurück nach Paris schleppen und sie so lange der hochnotpeinlichen Befragung unterziehen, bis sie Dinge gestand, die sie nicht getan hatte?
Sie versuchte, davonzukriechen, als ein Mann in einem langen schwarzen Mantel auf sie zu kam.
„Bitte“, keuchte sie. „Bitte, Herr, lasst mich gehen, ich bin unschuldig!“
Der Mann hob sie vom kalten Boden auf, als wöge sie nichts. Er trug sie zu seinem schnaubenden Pferd. Sie versuchte, noch etwas zu sagen, aber die Erschöpfung war zu groß. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Erst Stunden später kam sie in einer Jagdhütte wieder zu sich. Ein Feuer brannte und sie war in zahllose Decken gehüllt. Trotzdem war ihr eiskalt. Ihr gegenüber saß der Fremde auf mehreren Wolfsfellen auf dem steinernen Boden. Sie erkannte den toten Riesenwolf, der ein Stück abseits lag.
„Wo …“ Ihre Stimme brach, sie hatte Halsschmerzen.
Die goldgrünen Augen des riesigen Mannes blickten auf sie herab. Weder gütig, noch verurteilend. Er stand auf und brachte ihr eine Flasche, die er an ihren Mund setzte.
„Trink das und stell keine Fragen.“
Sie tat, was man ihr befahl, so, wie sie es immer tat. Die Flüssigkeit rann heiß ihre Kehle hinab. Es brannte wie Feuer. Sie hustete, spürte, wie
Weitere Kostenlose Bücher