Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
seine Hand beschützend auf ihren Bauch.
Marie schmiegte sich an ihn. Sie wollte daran glauben. An ihre Flucht. An ein gemeinsames Leben mit ihm und mit ihrem Kind.
Im Wald jaulte irgendwo ein Wolf, als sie die Zeit der Schrecken hinter sich zurückließen und Richtung Osten ritten.
L EIPZIG , S ONNTAG
Kamira sah hinunter auf die Innenstadt von Leipzig. Überall waren Schwarzgewandete, viele von ihnen rochen jung und süß, nicht alt und bitter, wie ihr Wunsch nach Rache schmeckte, der sie in jedem Augenblick begleitete. Die Werwölfin strich ihr weißes Haar zurück, während ihre Blicke auf einem jungen Mann lagen, der auf einem Regiestuhl saß und sich in aller Öffentlichkeit von einem gut angezogenen, offensichtlich homosexuellen Mann schminken und frisieren ließ. Der Friseur – oder Visagist – hatte lange manikürte Nägel und bewegte sich tänzelnd wie ein junges Reh im ersten Schnee des Winters.
Kamira stellte ihn sich als Reh vor, sah in Gedanken die rote Blutspur, die er über das Weiß ziehen würde, wenn sie seinen zappelnden Körper mit sich schleifte. Sie war noch immer wütend, weil Aurelius ihr mit dem Seelenblut entkommen war. Ihr Arm lag in einer Schlinge. Er war gebrochen – eine Folge des Kampfes im heidnischen Dorf – würde aber bis zum Abend wieder geheilt sein. Der Regenerierungsschmerz war grausam, aber lange nicht so schlimm wie der einer tödlichen Verletzung, die inneren Organe betraf. Trotzdem ärgerte sie sich, dass Aurelius sie ausgeschaltet hatte und geflohen war, kaum dass sie in den Kampf eingeschritten war. Sie knurrte leise.
„Wie lange wollen wir noch hier herumsitzen?“
Marut klappte hinter ihr das Netbook zu. „Ich habe sie.“
Kamira fuhr herum. „Du weißt, wo sie sind?“ Wie lange träumte sie schon von ihrer Rache. Sie wollte Aurelius‘ Kopf! Wie Salome einst auf Wunsch ihrer Mutter den Herrscher bat, wünschte auch sie sich einen Kopf auf einem goldenen Tablett. Seit Jahrhunderten war sie einsam. Es gab niemanden, der die Lücke füllen konnte, die Gabriels Tod in ihr hinterlassen hatte. Würde nun endlich die Gelegenheit kommen, auf die sie so lange wartete? Ein Hinterhalt, der ihre körperliche Unterlegenheit gegenüber Aurelius ausglich?
„Nein.“ Marut sah auf und strich sich über das vernarbte Gesicht. „Nein, Schwester, aber ich weiß, wo sie sein werden.“
„Wo?“
„Im Gohliser Schlösschen. Ein Neureicher hat einen Teil des Schlosses für den Abend gemietet. Angeblich, um dort eine Fetischparty im Rahmen des WGT abzuhalten. Die Ausstattung, die angeliefert wird, deutet auf ein Ritual hin.“
Kamira winkte ungeduldig mit der Hand ab. „Wie viele Personen?“
„An die dreißig. Viele sind aus Frankfurt angereist.“
„Dreißig Vampire …“ Kamiras Augen strahlten. „Wunderbar. Wir brauchen Sprengstoff. Und jede Menge Waffen.“
„Ich werde alles arrangieren.“
Kamira spürte die heiße Aufregung, die sie so liebte. Wieder einmal würde sie dem Tod begegnen. Würden sie einander nur grüßen, oder würden sie das Feld gemeinsam verlassen?
„Wir brauchen das Rudel.“
„Ich rede mir Rene.“
„Tu das.“
Kamira zweifelte daran, dass Rene das Rudel wirklich geschlossen nach Leipzig schicken würde. Zwar war es ein guter Moment, aber offiziell befanden sie sich nicht im Krieg. Es gab einen alten Pakt zwischen Renes Klan und dem von Gracia. Beide Frauen kannten einander lange und hatten in Frankreich ein Bündnis geschlossen, das den Vampiren die gegenseitige Tötung verbot, selbst wenn es um Rache ging. Zwar waren die Werwölfe ausgenommen, aber es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass die überlebenden Wölfe Frankreichs unter dem Kommando von Rene standen.
Sie ließen sich von ihr beschützen und machten dafür die Drecksarbeit.
Sie sah zu Marut, der das Handy in der Hand hielt, aber noch nicht gewählt hatte. Seine langen grauen Haare verbargen die Hälfte seines zerklüfteten Gesichts.
„Was denkst du? Was wird geschehen, wenn es Rene tatsächlich gelingt, das Wissen zu erlangen und Lai‘raa zu erwecken?“
Marut grinste böse. „Es werden einige Vampire dabei draufgehen.“
Während er wählte, wandte Kamira sich ab und starrte wieder hinunter auf den Platz. Auf dem schwarzen Stuhl saß nun eine junge Frau, ein dürres, pubertierendes Ding voller Pickel und Selbstzweifel, das den Friseur zutraulich anlächelte. Wahrscheinlich hoffte sie, von ihm in eine Dame verwandelt zu werden.
Menschen. Werwölfe.
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