Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
dass er log. Er war älter. Ihre Erinnerungen mit ihm in einem historischen Frankreich hatten eine Bedeutung. Er war ein Wesen, das schon lange existierte. Ein Wesen, das Menschen beeinflussen und das mit der Wucht eines LKW auf einen anderen prallen konnte, ohne sichtliche Spuren davonzutragen. Seine Kraft war nicht normal. Vielleicht war er ein Mensch. Vielleicht gab es eine Krankheit oder Veranlagung, die dafür sorgte, dass er stärker war und sich sein Gewebe regenerierte. Die für ein sehr langes Leben sorgte. Vielleicht war das die Wahrheit hinter dem Vampirmythos. Aber wenn es so war, musste diese Krankheit erhebliche Nebenwirkungen haben, oder aus einem anderen Grund unter Verschluss gehalten werden. Zumindest hatte sie nie von Menschen wie ihm gehört, obwohl Aurelius eine medientaugliche Sensation darstellte, falls sie recht hatte.
Vampire.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Es konnte nicht sein.
Als sie wieder aufsah und Aurelius betrachtete, sah er regungslos zurück. Er wirkte angespannt. Wie ein Jäger, der Angst hatte, sein Wild könne ihm entkommen, weil es ihn witterte.
„Was bist du?“, flüsterte Amalia. „Und was hast du eben mit dieser Frau gemacht?“
Aurelius seufzte. „Ich … ich weiß es nicht. Zumindest nicht, was ich mit der Frau gemacht habe. Es stimmt, ich habe einen Einfluss auf Menschen, und hin und wieder nutze ich ihn. Es ist eine Art Hypnose. Vielleicht hast du im Fernsehen schon Berichte von Zahnärzten gesehen, die Wurzelbehandlungen ganz ohne Betäubung durchführen. So etwas gibt es tatsächlich. Wenn ein Mensch mir entgegenkommt, kann ich ihn ein Stück weit mit Gesten und Blicken beeinflussen. Das ist eine seltene Gabe, aber es gibt sie.“
Sie blieb skeptisch, aber ein Teil von ihr wollte ihm glauben. Er konnte nicht mehrere Jahrhunderte alt sein. Das war unmöglich. „Wenn es so ist, warum hast du dann eben noch behauptet, das mit der Hypnose sei Unsinn?“
Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in seine. „Überleg doch mal: Du könntest mir vorwerfen, dass ich das auch mit dir tue. Dass ich dich beeinflusse, damit du bei mir bleibst und …“ Er verstummte.
Mit mir schläfst, beendete Amalia den Satz gedanklich.
Sie runzelte die Stirn. Fast wäre es ihr lieber gewesen, Aurelius hätte ihr nicht ehrlich geantwortet. War sie deshalb eben auf der Lichtung so weit gegangen? Hatte er sie beeinflusst? Konnte es sein? Konnte ein Mensch einen anderen Menschen hypnotisieren? Und wie hing das mit ihren Träumen zusammen, ihren vermeintlichen Erinnerungen aus Frankreich? Kamen sie nur daher, dass Aurelius eine stark hypnotische Wirkung auf sie hatte, die ihr Gehirn zu verarbeiten suchte?
Die Fragen überschlugen sich, wiederholten sich, forderten Antworten.
Verwirrt wandte sie den Blick von seinem ab und starrte auf die vorübergehenden Besucher in ihren schwarzen und mittelalterlichen Gewandungen. Sie dachte an die vergangene Nacht zurück.
Nein, da war keine Beeinflussung. Sie war ganz klar gewesen. Alles, was sie taten, hatte sie freiwillig getan. Und es hatte Spaß gemacht.
Als könne Aurelius ihre Gedanken lesen, rückte er näher an sie heran und legte seinen Arm um sie. „Sei bitte nicht wütend auf mich. Was ich tue, tue ich nicht absichtlich. Hin und wieder geschieht es einfach, dass Menschen stärker auf mich reagieren.“
Sie sah in sein ebenmäßiges Gesicht mit den funkelnden braunen Augen, die in so vielen Facetten den Braunton wechselten, je nachdem, wie das Licht der Nachmittagssonne in sie fiel. Seine langen Haare rahmten sein Gesicht wie flüssiger Bernstein, durchtränkt von dunklem Gold. Seine Gesichtskonturen glichen einer der Engelsstatuen auf dem Friedhof in Halle.
„Du bist schön“, stellte sie fest. „Übermenschlich schön. Natürlich hat das eine Wirkung auf andere. Und auf dich sicher auch.“
„Du findest mich arrogant?“
„Du bist ungemein von dir selbst überzeugt. Denkst du nicht, da gibt es einen Zusammenhang? Vielleicht ist das die Basis, um andere Menschen zu beeindrucken oder zu verunsichern. Vielleicht wirkst du deshalb so intensiv auf mich.“
Er schwieg. Sein Arm lag um ihren Rücken. Eine Weile beobachteten sie die Besucher, als gebe es sonst nichts zu sagen. Amalia wollte ihm Zeit lassen. Sie hoffte auf eine Antwort. Hoffte auf eine logische Erklärung, die sie den Unsinn von Vampiren und vorherigen Leben endgültig vergessen ließ. Das Warten fiel ihr schwer.
„Vielleicht. Die meisten haben
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