Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
wollte oder nicht. Und sie wusste nicht einmal, weshalb. Das war zu viel für sie. Tränen liefen über ihre Wangen und ihr Fluchtinstinkt übernahm ihren Körper. Sie rannte los. Der Park flog an ihr vorbei. Dennoch kam sie keine zehn Meter weit. Aurelius war plötzlich da und hielt sie fest. Sie wehrte sich heftig und gemeinsam stürzten sie zu Boden. Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr.
„Wir brauchen dich, Amalia. Wir brauchen dein Wissen.“ Er lag schwer auf ihr, drückte ihren Rücken in das feuchte Silbergras.
Ihr Zittern wurde stärker. „Dann ist es wahr. Ich bin eine wandernde Seele. Ich wurde wiedergeboren, und ihr braucht etwas, das ich aus einem vorherigen Leben weiß. Eine meiner Erinnerungen.“
„Nein.“ Sein Blick war ausdruckslos. „Das ist nicht ganz richtig. Ja, wir brauchen deine Erinnerung, aber du bist nicht wiedergeboren. Du bist das, was wir seit der Antike Seelenblut nennen. Früher dachten wir tatsächlich, es gebe eine Wiedergeburt. Doch seit einigen Jahren kennen wir die Wahrheit. Und diese Wahrheit führte uns zu dir.“
Sein Atem war warm, wie der eines Menschen. Er streifte ihre Wange.
„Welche Wahrheit?“
„Die Wahrheit, dass es keine Wiedergeburt gibt. Aber es gibt Genetik. Du, Amalia, entstammst einer sehr alten Familie mit einer seltenen Gabe. Eure genetischen Erinnerungen werden wesentlich präziser im Erbgut abgelegt, als die aller anderen Menschen.“
„Genetische Erinnerungen?“
Er rollte sich von ihr hinunter, hielt ihre Handgelenke aber fest gepackt, damit sie nicht fliehen konnte. Sie stand in seinem Griff langsam auf.
„Ja. Jeder Mensch hat die Gabe dazu, doch die meisten speichern nur grobe Verhaltensmuster und einige wenige Bilder aus besonders intensiven Momenten. Wenn ein Mensch zum Beispiel einen Brand oder eine Hungersnot überlebt hat, oder eine andere Katastrophe, dann kann es sein, dass er Teile dieser Erfahrung in irgendeiner Form weitervererbt. Es gibt viele falsche Medien, die eine schwach ausgeprägte Gabe haben. Sie haben ein paar Fetzen Erinnerung, den Rest ergänzen sie mit Fantasie und ihrem Wissen, aber es fühlt sich für sie an, als hätten sie die Ereignisse selbst erlebt. Und dann gibt es die eine Familie. Die eine Abstammung. Deine Abstammung von der Quelle. Die Frauen deiner Vorfahren können es wirklich. Sie speichern alles und können auf große Teile der Leben ihrer Ahnen zugreifen. Schon vor dreißigtausend Jahren wart ihr Schamaninnen. Später Priesterinnen. In Ägypten gab es einen eigenen Kultort, nur für euch. Nach Mesopotamien hat man einige von euch entführt, und Menschen wie Alexander der Große zahlten ein Vermögen, euch zu sehen und zu besitzen.“
„Ich bin für dich eine Attraktion? Ein Tier, das man wie im Zirkus vorführt?“
„Du bist ein Nachkömmling von Lai‘raa. Eine menschliche Erbin des vergifteten Blutes. Und du trägst Erinnerungen in dir, die jeden Geschichtsprofessor ob ihrer Genauigkeit und Präzision zu einem frühen Infarkttod treiben könnten.“
Sie schloss die Augen. Es war eine Erklärung. Zwar war sie vollkommen verrückt, genau, wie Aurelius vollkommen verrückt war, aber es war eine Erklärung.
„All meine Träume“, flüsterte sie, „es hat sie wirklich gegeben, diese Menschen? Marie … sie hat tatsächlich gelebt?“ Sie sah Aurelius an und erinnerte sich wieder, was für ein Mistkerl er gewesen war. Es war alles real. Aurelius hatte diese Frau ausgenutzt. Er hatte sie zu sexuellen Gefälligkeiten gezwungen und sie als Lustspielzeug auf seinem Anwesen gehalten. Er war ein widerwärtiges Monster in der Hülle eines Gottes. Sie trat gegen sein Schienbein und versuchte, ihre Hände aus seinem Griff zu befreien.
„Du hast sie dir als Sklavin gehalten. Du hast sie erpresst und gedemütigt. Hast ihr alles genommen.“
„Ich stelle keinen Antrag auf einen Preis für Menschenrechte.“
Ihre Hände bekam sie nicht frei, und ihre Fuß- und Kniestöße schien er nicht wahrzunehmen.
„Sei jetzt nicht sarkastisch. Ich will wissen, was aus ihr geworden ist. Was ist mit ihr passiert?“
„Mit Marie?“ Er sah sie überrascht an. Seine Augen verengten sich. „Weißt du das denn nicht? Sie ist geflohen. Sie hat Nachwuchs bekommen. Einen Sohn. Sie war deine direkte Vorfahrin. Es ist kein Wunder, dass du dich zuerst an sie erinnert hast. Du trägst einen Anhänger, den einst Marie besessen hat. Solche Gegenstände können Erinnerungen und Träume auslösen. Sie sind eine Verbindung
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