Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
zu beherrschen.
„Ich kann keine deiner Lügen mehr ertragen, verstehst du? Ich kann nicht mehr.“
Er stand dicht vor ihr, vor dieser unwirklich schönen Gartenlaube. Der Mond warf schwaches Licht durch die offenen Bögen. Seine Haut schimmerte wie die glattpolierte Oberfläche einer Marmorstatue. Ein Glitzern überzog die helle Oberfläche und seine goldgrünen Augen waren schöner als alles, was sie je erblickt hatte.
Er fasste ihre Hand, und obwohl sie ihm ihre Finger entziehen wollte, konnte sie es nicht. Vor ihr stand kein Mensch. Er war grausam schön und sie konnte und wollte sich ihm nicht entziehen.
„Bitte, hör mir zu. Ich erkläre es dir. Ich erkläre dir alles. Das wollte ich schon tun, ehe die Explosion stattfand.“
Sie schwieg und gab ihm die Möglichkeit, weiter zu sprechen. Ihr Blick lag unverwandt in seinem. Sein engelsgleiches Gesicht war von Trauer erfüllt. Es schien ihm leidzutun, sie hintergangen zu haben. Seine Stimme war leise und melodisch.
„Das eben war eine Werwölfin. Sie heißt Kamira und hat ein persönliches Problem mit mir, weil ich ihren Gefährten umgebracht habe. Und ich … ich bin ein Vampir“, sagte er ausdruckslos. Er regte sich nicht, versuchte nicht, sie an sich zu ziehen. „Zumindest nennt man unsere Art in Europa so. Wir sind Mutanten, Virenverseuchte. Nenn es, wie du willst. Kaum fünf Prozent überleben die Infektion auf natürlichem Weg. Ohne medizinische Hilfe sterben die meisten innerhalb der ersten zwölf Stunden nach dem finalen Biss an Fieber. Aber inzwischen haben wir gelernt, zu trinken, ohne Menschen zu verwandeln.“ Er sah auf ihren Hals. „Und ohne zu töten. Das Sekret, das wir absondern, beschleunigt die Heilung. Du wirst also kein Vampir werden und auch nicht sterben, obwohl ich dich gebissen habe.“
„Du hast tatsächlich … du hast mich …“ Ihre Stimme brach.
„Ich musste es tun. Gracia hat es befohlen. Sie führt den Vampirklan, zu dem ich gehöre.“
Amalia konzentrierte sich auf das Atmen. Ein und aus. Sie versuchte, zu begreifen, was er ihr da erzählte. Die Bilder des Tages überschlugen sich in ihren Gedanken. Wieder sah sie die Blonde im mittelalterlichen Dorf vor sich, die Aurelius ihren Hals anbot.
„Dieses Mädchen heute Mittag … hast du sie telepathisch beeinflusst, damit sie dir … Blut … ich meine, trinkt ihr tatsächlich regelmäßig …“ Sie verstummte und umklammerte ihren Hals. Sie fand nicht die richtigen Worte.
„Blut ist wichtig für uns. Am besten menschliches Blut. Es geht auch lange Zeit ohne, aber dann werden wir schwächer. Gewöhnliche Nahrung brauchen wir so gut wie gar nicht. Wir können sie zu uns nehmen, aber wir benötigen sie nicht.“
Eine Frage kreiste in ihrem Denken. Sie wusste, wie unsinnig die Frage war, wie kleinlich in Anbetracht der Ereignisse, aber sie konnte nicht anders, als diese Frage aus sich herauszupressen: „Warum ich? Wie passe ich da rein? Was willst du von mir, Aurelius? Was will dein Klan von mir?“
Sie verstand, dass Aurelius‘ Klan sie nicht töten wollte. Nach den Ereignissen hatte sie gesehen, wozu Aurelius in der Lage war. Hätte er sie umbringen wollen, wäre sie nicht mehr am Leben. Statt dessen hatte er sie mit seinem Leben – oder seines Existenz – geschützt.
Aurelius seufzte. „Das ist kompliziert.“
„Versuch, es zu erklären.“
Er senkte den Blick. „Du hast zu viel erlebt. Zu viel für einen einzigen Abend. Gönn dir eine Pause. Ich erkläre dir alles unterwegs im Auto.“
„Unterwegs im Auto?“ Was hatte er vor? Wollte er sie entführen wie die verrückte Kamira vor wenigen Minuten? Die Gewissheit, dass ihr ganzes bisheriges Leben zusammenbrach wie ein Kartenhaus, nahm ihr den Atem. „Im Auto?“, wiederholte sie stupide. Sie versuchte verzweifelt, zu begreifen, was gerade geschah.
„Wir müssen von hier verschwinden“, sagte er teilnahmslos. „Dieser Ort ist nicht sicher.“
„Aurelius, ich werde nicht nach all dem mit dir in ein Auto steigen. Ich will tatsächlich nie wieder irgendetwas mit dir zu tun haben! Weder mit dir noch mit einem anderen deiner blutgierigen Freunde.“ Die Wunde an ihrem Hals pulsierte. Der Gedanke, dass er ihr heimlich und gegen ihren Willen Blut ausgesaugt hatte, erhöhte ihren Blutdruck.
Aurelius stand noch immer unbewegt. Wenn er wenigstens etwas erwidert hätte.
„Es tut mir leid, aber ich muss dich mitnehmen. Du bist in Gefahr.“
Amalia erwiderte nichts. Er würde sie mitnehmen, ob sie
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