Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
beging.
„Dann ...“ In ihrer Stimme klang Hoffnung auf. „Dann kann auch ich zum Vampir werden? So wie du und Tatjen?“
„Ich wünschte, das ginge so einfach. Glaub mir, ich will dir nichts vorenthalten, und ich verstehe, dass deine Begehrlichkeit geweckt ist, aber es geht nicht. Um verwandelt zu werden, benötigst du bestimmte Voraussetzungen. Erinnerst du dich an Darions schweres Fieber nach der Schlacht bei Hanau?“
Sie nickte. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst. Ihr schien nicht zu gefallen, was er ihr sagte.
„Das war das Fieber der Umwandlung. Nur wenige überleben es. Tatjen weiß, wer es überstehen kann und wer nicht. Er wusste, dass Darion eine gute Chance hatte und ich auch. Aber er sagt, du hast nicht das richtige Blut und die nötigen Voraussetzungen. Du wirst sterben bei dem Versuch, dich zu verwandeln.“
Ihr Gesicht zeigte blanken Hass. „Tatjen ist ein Teufel. Er lügt. Er will dich ganz für sich, Aurelius, deshalb behauptet er, ich würde sterben. Das ist ein bösartiger Trick! Er will uns auseinander bringen. Spürst du das nicht?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube ihm.“
„Er hat dich verblendet. Mach mich zu dem, was du bist.“ Sie reckte stolz das Kinn vor. „Mach mich zu deinesgleichen. Ich ertrage es nicht, ausgeschlossen zu sein.“
Tiefes Bedauern machte ihm die Antwort schwer. Er wünschte, er hätte geschwiegen, aber eine Alternative sah er nicht. „Ich kann es nicht. Versteh das bitte.“
Sie wandte sich von ihm ab und sah hinunter auf die Stadt. „Wir werden sehen“, sagte sie düster. „Wir werden sehen.“
B ERLIN , S IEGESSÄULE
Das Rauschen des Verkehrs übertönte das Zwitschern der Vögel. Abenddämmerung sank über die Stadt und den nahen Park. Kamira starrte von der Aussichtsplattform der Siegessäule auf dem großen Stern hinab, auf Straßen, Häuser und den Großen Tiergarten, die gut sechzig Meter unter ihr lagen. Über ihr erhob sich Viktoria, die goldene Siegesgöttin der römischen Antike. Ihre gespreizten Flügel wirkten, als wolle die Göttin sich erheben, um diesen Platz endgültig zu verlassen. Ob die „Goldelse“ es müde war, den Lorbeerkranz und das eiserne Kreuz zu halten? War der Adlerhelm ihr zu schwer geworden?
Kamira war allein auf der Plattform, die Besuchszeit war vorbei, das Gebäude abgeschlossen. Aber was kümmerte sie das. Sie würde später den inoffiziellen Weg an den Außenwänden der Säulen nach unten nehmen, der ohnehin viel spannender war als die 285 Treppenstufen, und für einen Werwolf eine mittelmäßige Herausforderung darstellte. Und eben das wurde in diesem Augenblick erneut unter Beweis gestellt: Ein weiterer Werwolf war auf dem inoffiziellen Weg nach oben, und er hatte sich nicht angekündigt. Kamira konnte ihn riechen, war sich aber nicht sicher, wer es war. Gehörte er zu ihrem Rudel?
Sie fuhr mit gezogener Waffe herum, als sie ein Geräusch hörte. Sekundenschnell ließ sie die Waffe sinken und sah zu, wie sich Marut über den Rand der Plattform schwang.
„Was willst du?“, fragte sie und verstaute ihre Waffe unter dem langen Mantel. Er musste ihr gefolgt sein. Sie mochte es nicht, ausspioniert zu werden.
„Mit dir reden. Es ist an der Zeit.“
Ihre Rubinaugen verengten sich misstrauisch. „Schickt Rene dich?“ Ihre Stimme klang höhnisch. Sie verachtete ihn, weil er Renes Speichellecker war, und das wusste Marut nur zu gut.
Der Werwolf sah sie aus rot aufleuchtenden Augen an. Er war jünger als sie und würde sie in einem Kampf nur mit Glück besiegen.
„Nein. Auch über Rene möchte ich mit dir reden. Aber zuerst will ich wissen, wie es dir geht.“
Die Frage überraschte sie. Sie arbeiteten zwar zusammen, hatten aber immer Abstand gehalten und waren nie persönlich geworden. Sie wandte sich von ihm ab und drehte ihm den Rücken zu. Ihr Blick glitt in die Tiefe. „Ist der Asphalt dort unten nicht ziemlich grau?“
„Erscheint es dir so?“ Er trat neben sie. „Siehst du alles grau in grau, weil deine Wahrnehmung sich verändert hat?“
Kamira schluckte. Seit Jahren war bekannt, dass Menschen mit Depressionen die Welt tatsächlich grauer sahen, da ihre Netzhaut weniger Kontraste erfasste. Auch ihre Sicht hatte sich verschlechtert. Sie fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen.
„Manchmal wünschte ich, ich wäre nicht Werwolf, sondern Vampir. Warum stumpfen ihre Gefühle ab, während unsere intensiver werden? In mir ist so viel Hass, ich könnte die Welt damit in zwei
Weitere Kostenlose Bücher