Schwarz auf Rot
mysteriösen Abkürzungen in dem Manuskript bedeuten konnten.
Weiße Wolke werkte geräuschvoll in der Küche. O f fenbar kochte sie, wenngleich es noch etwas früh fürs Abendessen war.
Schließlich erschien sie mit einem großen Tablett und einem strahlenden Lächeln. »Vom Dynasty Club«, ve r kündete sie und stellte auf dem Beistelltischchen ein Festmahl von Delikatessen ab, die er nie zuvor gesehen hatte. Ein kleiner Teller enthielt gebratene Spatzenm ä gen. Wie viele Spatzen hatten wohl für dieses Gericht ihr Leben lassen müssen, fragte er sich. Ein anderes Gericht war ebenfalls sehr originell, es bestand aus Entenköpfen, deren Schädelknochen entfernt worden waren, so daß der Esser besser an die Zunge gelangen und die Hirnmasse aussaugen konnte. Doch es waren die »Sauna-Shrimps«, die ihn am meisten beeindruckten. Lebende Flußkrabben wurden in einer Glasschale an den Tisch gebracht, dazu ein kleiner hölzerner Eimer, dessen Boden mit glühen d heißen Steinen bedeckt war. Weiße Wolke goß Wein in die Schale mit den Krabben, dann nahm sie die betrunk e nen Krabben heraus und legte sie in den Eimer. Ein schrilles Zischen ertönte, und nach zwei, drei Minuten war eine Platte mit Sauna-Shrimps fertig.
Gu mußte ihr jede Menge Anweisungen gegeben h a ben, die unter anderem die Zubereitung dieses Gerichts betrafen. Sie w ar vielleicht keine wirklich gute Köchin, verstand es aber dennoch, delikate Mahlzeiten zu za u bern. Für Chen war das allemal genug.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte sie und griff nach einer der photokopierten Seiten.
»Dies könnte ein Teil des Puzzles sein. Ich muß es nur am richtigen Platz einfügen.«
»Das werden Sie«, sagte sie. »Ich hoffe, daß Ihnen die Krabben geschmeckt haben.«
»Ja danke. Sie verwöhnen mich.«
»Wirklich nicht. Es ist eine große Ehre für mich, für Sie zu arbeiten. Das sagt mir auch mein Chef immer wieder.«
In Chens Ohren klang das wie eine Erinnerung – an die Arbeit, die am Schreibtisch auf ihn wartete, und an die Tatsache, daß sie in einer Geschäftsbeziehung zuei n ander standen.
Er dachte zurück an ihre erste Begegnung in einem Separee des Dynasty Clubs. Auch damals hatte sie eine professionelle Funktion ausgeübt, die eines K-Mädels. Das mindeste, was er tun konnte, war, ihre Arbeit zu würdigen. Mit den Fingern nahm er sich eine weitere Krabbe.
10
Hauptwachtmeister Yu traf relativ früh beim Nac h barschaftskomitee ein. Er wollte die verbleibende Zeit mit Lesen nutzen, obwohl Peiqin ihm ja schon eine I n haltsangabe von Yins Roman gegeben hatte. Sie hatte ihm auch ein paar Stellen angestrichen, die er sich näher ansehen sollte. Die erste Passage schilderte, wie Yang Yin hinter dem Schweinestall vorgelesen hatte und das Grunzen der Ferkel den Chor abgab.
Die Wolke schien ihre Form zu verändern. / Schwer e los und weich schob sie sich in die andere, / wand sich um sie. Dann kam der Regen … Yu brauchte einige M i nuten, bis er die Bedeutung dieses Bildes begriffen hatte. Yin benutzte eine raffiniert verschlüsselte Sprache, ohne je explizit zu werden. Dennoch fragte er sich, ob zw i schen Yin und Yang wirklich etwas vorgefallen sein konnte, während sie zusammen in der Kaderschule w a ren. Beide wohnten sie im Wohnheim und hatten jeweils mehrere Zimmergenossen. Selbst wenn diese einmal für ein, zwei Stunden abwesend waren, wäre es zu riskant gewesen, ein intimes Treffen zu wagen. Wer damals bei außerehelichem Sex erwischt wurde, konnte für Jahre ins Gefängnis kommen. Als er die Zeilen erneut las, erschi e nen sie ihm noch provokativer. Oberinspektor Chen, der seine Gedichte in ähnlicher Weise verfaßte, würde das vermutlich schätzen.
In den anderen markierten Passagen ging es vorwi e gend um Politik. Ein langer Abschnitt beschrieb den Le i ter der Kaderschule, ein anderer das Arbeiter-Propagandateam. Yu konnte sich vorstellen, daß manche Leute nicht glücklich waren über dieses Buch. Unschwer konnten sie sich selbst in einigen der Figuren wiedere r kennen.
Ihm war allerdings nicht klar, warum Peiqin ihn ger a de auf diese Passagen aufmerksam gemacht hatte. Aber er konnte sich nicht länger in seine Lektüre vertiefen, denn ein Anruf von Parteisekretär Li verfolgte ihn bis ins Büro des Nac h barschaftskomitees. Grund dafür war ein ziemlich langer Artikel in der letzten Nummer eines p o pulären Magazins, der anläßlich von Yins Tod geschri e ben worden war, in Wahrheit aber dem Andenken Yangs
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