Schwarz auf Rot
paar ihrer Kollegen gesprochen.«
»Aus denen werden Sie, vermute ich, kaum etwas h e rausbringen. Aber es ist noch zu früh, um Möglichkeiten auszuschließen.«
Als sie ihr Gespräch beendeten, zeigte die Uhr halb zwei.
Während er sich einen Becher Sojamilch eingoß, übe r legte Chen, daß eigentlich besser er einige der Wisse n schaftler hätte aufsuchen sollen, die Yin oder Yang g e kannt hatten. Aber da war sein Übersetzungsauftrag, also griff er zum Hörer und wählte die Nummer von Professor Zhou Longxiang, der an derselben Universität lehrte wie Yin. Chen hatte ihn einmal wegen eines klassischen ch i nesischen Gedichts um Rat gefragt, und sie waren in Kontakt geblieben.
Professor Zhou, der sich seit seiner Emeritierung ganz offensichtlich einsam fühlte, schien erfreut über Chens Anruf. Prompt ließ er sich eine Viertelstunde lang über den Niedergang der Dichtkunst aus, bevor es Chen g e lang, auf Yin zu sprechen zu kommen. Sofort nahm Zhous Stimme einen gereizten Ton an. »Diese Yin Lige war eine schamlose Opportunistin. Ich sollte nicht schlecht reden über eine Tote, aber als sie noch Rotgard i stin war, zeigte sie keinerlei Mitleid für andere.«
»Vielleicht war sie damals einfach noch zu jung.«
»Das ist keine Entschuldigung. Eine Landplage von einer Frau! Sie hat nichts als Unheil über ihre Nächsten gebracht, Yang inbegriffen, den ich als Wissenschaftler sehr geschätzt habe.«
»Das ist ein interessanter Punkt, Professor Zhou«, sa g te Chen. »Sie sind ja wohl nicht abergläubisch. Bitte e r zählen Sie mir mehr darüber.«
»Das ist ganz einfach. Hätte er nicht diese Affäre mit ihr gehabt, dann wäre er nicht in die Kritik der Kade r schulbehörde geraten«, sagte Zhou. »Karma. Ihre Han d lungsweise während der Kulturrevolution ist am Ende auf sie selbst zurückgefallen.«
Es war grausam, so etwas zu sagen, ganz gleich ob man Buddhist war oder nicht. Die Meinung des alten Professors m ußte sich unter dem Eindruck der Kulturr e volution gebildet und verhärtet haben. Dies brachte die Ermittlungen zwar nicht weiter, bestätigte aber, daß Yin auch unter Kollegen nicht beliebt gewesen war.
Ein Blick auf die Uhr sagte Chen, daß er sich nicht viele solcher Telefongespräche leisten konnte. Doch dann hatte er eine andere Idee: Er könnte Weiße Wolke einspannen. Es war bemerkenswert, wie sie wolkengleich in seine Gedanken schwebte und während seiner Arbeit immer präsent zu sein schien, und das nicht nur beim Übersetzen. Befriedigt spann er diesen Gedanken weiter. Er könnte sie zu Yins früheren Kollegen schicken. Nun fühlte er sich wie der Feldherr in dem Sprichwort: Ein General, der in seinem Zelt Pläne macht, entscheidet die Schlacht, die tausend Meilen entfernt tobt. Selbst wä h rend seines Urlaubs konnte er die Ermittlungen vora n bringen.
Kurz vor vier kam Weiße Wolke mit zwei Plastiktüten zurück. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt Jeans und eine Lederjacke über einem tief ausgeschnittenen weißen Pullover, dazu ein Paar schwarzglänzende Stief e letten.
»Ich habe etwas für Sie«, sagte sie und stellte eine der Plastiktüten auf den Tisch.
»Sie waren aber schnell. Vielen Dank. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, Weiße Wolke.«
»Hier sind Photokopien von Yangs Gedichtüberse t zungen. Sie werden sie selbst lesen wollen.« Mit der a n deren Tüte wandte sie sich der Küche zu. »Ich mache Ihnen etwas zu essen.«
»Was haben Sie denn da in der Hand?«
»Überraschung.«
Er hatte keine Ahnung, was in der zweiten Tüte war. Es war groß und schwarz und gab ein schwaches, unb e stimmtes Geräusch von sich.
Er vertiefte sich in die Lektüre der Gedichte. Yangs Übersetzungen waren in verschiedenen englischsprach i gen Fachzeitschriften erschienen, allerdings erst in den letzten Jahren. Solc he Publikationen hatten in China hohe Auflagen, da mittlerweile viele Leute Englisch lernten.
Zu Chens Erstaunen hatten die Herausgeber oftmals in Kommentaren erläutert, warum die Leute Yangs Übe r setzungen lesen sollten. Einer schrieb sogar, man könne damit Amerikaner beeindrucken, andere prophezeiten, daß es jetzt in Mode komme, an dem inzwischen auch in China populären Valentinstag seiner Liebsten solche G e dichte aufzusagen. In einigen Fällen hatte Yin kurze Ei n leitungen geschrieben. Sie handelten vom Handwerk des Lyrikübersetzens, was vor allem für Anfänger hilfreich sein mochte. Er fand allerdings keinen Hinweis darauf, was die
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