Schwarz auf Rot
wie er sehr wohl wußte, mittlerweile in eine Krise geraten. Und viel zu viele Bücher warteten darauf, gelesen zu werden. Wie sollte er das zwischen einem Mordfall und dem nächsten alles bewältigen?
Er fühlte sich Yang, der sowohl Dichter wie Überse t zer gewesen war, irgendwie verbunden. Ein erneuter Kurswechsel in der Politik, und Chen könnte dasselbe Schicksal ereilen, wie Yang es durchlitten hatte.
Chen war nicht bekannt gewesen, daß Yang auch vom Chinesischen ins Englische übersetzt hatte. Er selbst ha t te das, abgesehen von ein paar Gedichtzeilen für einen Freund in den Staaten, bislang noch nie getan.
Er kochte sich einen Kaffee, echte brasilianische Bo h nen, die ein Geschenk der fernen Freundin waren. Er nahm das Konvolut mit Gedichten zur Hand, das Yu ihm gegeben hatte. Statt auf den Computerausdruck konze n trierte er sich auf Yangs handschriftliches Man u skript. Beide waren praktisch identisch, doch bei einer wisse n schaftlichen Arbeit über Eliot ’ s Waste Land, die er vor Jahren geschrieben hatte, war ihm klar geworden, daß einem das handgeschriebene Manuskript eines A u tors Zugang zu dessen kreativer Persönlichkeit eröffnen kon n te.
Offenbar hatte Yang bewußt versucht, die Texte einem zeitgenössischen, englischsprachigen Lesepublikum ve r ständlich zu machen, auffallend jedoch waren die so n derbaren Abkürzungen an den Rändern der Seiten.
»Kapitel 3«, »KU«, »K8 oder K26«, »K12 oder K15«, »für das Schlußwort«.
Nur Yang schien die Bedeutung dieser Anmerkungen zu kennen.
Vielleicht bezogen sie sich auf Sekundärliteratur, die er während der Übersetzung zu Rate gezogen hatte, ve r mutete Chen. Klassische chinesische Dichtung eröffnete ein weites Feld der Interpretation. Als anerkannter Wi s senschaftler hatte Yang vermutlich gründliche Forschu n gen betrieben, b e vor er sich auf seine Version festlegte.
Andererseits war diese Erklärung wenig überzeugend. Dazu hätte Yang sich Seitenzahlen und nicht Kapite l nummern notiert, was ihm das spätere Auffinden eines Zitats erleichtert hätte.
Die Sammlung enthielt eine Reihe von Gedichten, die Chen in der Mehrzahl sofort wiedererkannte, sogar auf englisch. Bei anderen konnte er sich nicht vorstellen, wie das Original lautete. Die Auswahl enthielt, wie Yin in ihrem Nachwort vermerkte, wundervolle Liebesgedichte, die zugleich die Erinnerung an ihre schönsten gemeins a men Tage heraufbeschworen. In der Kaderschule hatten sie sich gemeinsam in die Gedichte in ihrer chinesischen und englischen Fassung vertieft und sich dabei an den Händen gehalten. An solchen Abenden glaubten sie fast, Su Dongpo hätte sein Gedicht allein für sie geschrieben und sie selbst schienen in seinen Zeilen auf immer ve r eint:
Zur Nacht schon die dritte Stunde schlägt.
G oldenes Mondlicht in Wellen verweht.
D ie Deichsel des Wagens fährt den Himmel hinab.
W ir zählen dieweil an den Fingern ab, w ann sich der Westwind wohl erhebt, u nd merken nicht, daß, wie Wasser im Dunkeln, d ie Zeit vergeht.
Das Nachwort war gut geschrieben. Yin hatte sich z u rückgenommen und nicht zu viel gesagt, sondern ledi g lich die Situationen umrissen, in denen sie und Yang di e se Gedichte in der Kaderschule gelesen und durchg e sprochen hatten. Sie schloß mit einer Szene, in der sie allein ein Gedicht von Li Yu las, das Yang einst, tief in der Nacht, für sie rezitiert hatte:
Wann ist einmal ein Ende
Mit Frühlings Blüten, dem herbstenen Mond?
Wie vieles Vergangene mir in der Brust nur wohnt!
In mein kleines Gemach drang wieder
Der Ostwind gestern nacht:
Im Mondlicht heimwärts den Blick zu richten, h ab ich nicht fertiggebracht.
Die Stufen von Jade muß es noch geben, d ie Geländer, kunstvoll gedrechselt, n ur das Rot, das die Wange ziert, d as wechselt.
Fragst du: Wieviel faßt der Mensch an Sorgen?
Wie ein Flußbett Frühlingswasser, d as dort fließt g e gen Morgen.
Das Manuskript mußte für sie von hohem emotionalen Wert sein. Chen strich behutsam über die Seiten. Kein Wunder, daß Yin es in ihrem Bankschließfach verwahrt hatte.
Er stand auf und trat ans Fenster; unter ihm erwachte die Straße zu morgendlichem Leben. Aus dem Haus g e genüber hastete mit schwerer Schultasche ein Junger P i onier, der mit einer Hand sein rotes Halstuch zu binden versuchte, während er in der anderen einen fritierten Reiskuchen hielt. Für einen flüchtigen Moment kam es Chen so vor, als sähe er sich selbst, dreißig Jahre früher, in die
Weitere Kostenlose Bücher