Schwarz auf Rot
ist.«
»Und da ist noch etwas. Ich habe von einer Bahnfah r karte reden hören, die man bei Wan gefunden hat. A n geblich dient sie als Beweisstück gegen ihn, aber zufällig weiß ich etwas darüber.«
»Was denn, Herr Ren?«
»Wieder so ein Zufall«, sagte Herr Ren. »Als spars a mer Gourmet esse ich in vielen unterschiedlichen Resta u rants, nicht nur im Alten Halbplatz. Eines meiner Lie b lingslokale liegt in der Nähe des Shanghaier Bahnhofs. Das Westberge ist bekannt für seine gefüllten Suppe n klößchen. Die in den Klößchen eingeschlossene Brühe ist außerordentlich köstlich. Eines Morgens vor mehreren Wochen habe ich Wan in einer langen Schlange vor dem Fahrkartenschalter stehen sehen. Damals hat mich das nicht weiter interessiert. Ich dachte, er kauft vielleicht eine Fahrkarte für einen Verwandten. Vor einigen W o chen sah ich ihn dann morgens wieder in der Schlange stehen.«
»Das ist allerdings komisch«, bemerkte Yu. »Wan scheint allein gelebt zu haben. Soweit ich hörte, ist er nicht oft verreist.«
»Es geht mich ja nichts an. Aber an jenem Morgen war das Westberge so voll, daß ich geschlagene einei n halb Stunden auf meinen Bambusdämpfer mit den Klö ß chen warten mußte. Als ich das Lokal verließ, habe ich Wan noch einmal gesehen. Diesmal stand er nicht mehr in der Warteschlange, sondern auf dem Bahnhofsvorplatz und verkaufte Fahrkarten an Leute vom Land. Wan hat sich also ein bißchen dazuverdient, indem er Tickets an Leute verkaufte, die sich selber nicht stundenlang anste l len konnten.«
»Das ist genau die Information, die ich gebraucht h a be. Statt Tai-Chi üben zu gehen, hat Wan am frühen Morgen das Haus verlassen, um Fahrkarten zu kaufen und sie dann weiterzuverkaufen. Jetzt wird mir manches klar.«
»Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Wan ist sehr darauf bedacht, sein Gesicht zu wahren. Es wäre unendlich peinlich, wenn ein ehemaliges Mitglied der Mao-Zedong-Gedanken-Propagandatrupps sich als Fah r kartenschwarzhändler entpuppen würde. Deshalb hat er seinen Nachbarn erzählt, daß er Tai-Chi übt. Die Mi t glieder der Propagandatrupps sind damals zum Teil g e nauso gnadenlos vorgegangen wie die Roten Garden. Ich persönlich habe keine Vorbehalte gegen sie. Niemand, auch Wan nicht, darf zu Unrecht beschuldigt werden, nur damit ein Mordfall zu den Akten gelegt werden kann.«
»Vielen Dank, Herr Ren. Sie haben uns wirklich zum Durchbruch verholfen.«
Yu war nun überzeugt, daß Wan nicht der Mörder war. Aber das bedeutete nicht, daß er dessen Geständnis ei n fach vergessen konnte. Jetzt stand ihm eine weitere Au s einandersetzung mit Parteisekretär Li bevor.
Das Frühstück hatte sich interessanter gestaltet, als Hauptwachtmeister Yu gedacht hatte.
19
Oberinspektor Chens Vormittag wurde vom wi e derholten Klingeln des Telefons zerrissen.
Der erste Anruf kam von Hauptwachtmeister Yu. Di e ser berichtete Chen von seiner »Frühstücksentdeckung« im Alten Halbplatz.
»Wir haben zu wenig gegen Wan vorliegen«, sagte Yu. »Ich kann die Ermittlungen noch nicht einstellen.«
»Das müssen Sie auch nicht«, erwiderte Chen. »Wir müssen das nicht.«
»Aber Parteisekretär Li drängt darauf.«
»Keine Sorge, ich werde ihn anrufen.«
»Und was wollen Sie ihm sagen?«
»Ist Wan denn nicht auch ein politisches Symbol? Während der Kulturrevolution war er Mitglied der Mao-Zedong-Gedanken-Propagandatrupps , und jetzt in den Neunzigern soll er zum Mörder geworden sein? Parteis e kretär Li wird das nicht gefallen.«
»Sie durchbohren also seinen Schild mit seiner eig e nen Lanze.«
»Genau das«, sagte Chen und bemerkte eine gewisse Erregung in Yus Stimme. Diese Karte würde er ausz u spielen wissen. »Wir werden ihn in seiner eigenen Schlinge fangen. Ich werde das mit Parteisekretär Li di s kutieren.«
Chen goß sich eine Kanne Tee auf. Nachdenklich ka u te er auf einem der zarten, grünen Teeblätter und legte seine Argumente für Parteisekretär Li zurecht, als schon wieder das Telefon klingelte.
Diesmal war es eine Krankenschwester vom Renji-Hospital. Seine Mutter sollte wegen ihrer Magenb e schwerden für ein paar Tage stationär beobachtet werden. Nach Aussagen der Schwester war der Arzt über ihren Zustand beunruhigt.
Diese Nachricht kam zu einem denkbar ungelegenen Zeitpunkt. Trotz der neuen Entwicklungen im Fall Yin mußte er unbedingt die Übersetzung abschließen. Er ha t te Gu sein Wort gegeben, und für das New-World-Projekt spielte,
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