Schwarz auf Rot
wie er sehr wohl wußte, der Zeitfaktor eine wichtige Rolle. Jetzt bereute er, diesen Auftrag a n genommen zu haben, der ihn mit seinen Verpflichtungen als Polizist und nun auch als Sohn in Konflikt brachte.
Dennoch hatte die Übersetzungsarbeit ihre positiven Seiten. Das Krankenhaus verlangte eine Garantiezahlung, ohne die die Patientin nicht aufgenommen werden würde. Dafür kam ihm sein Vorschuß, der diesen Betrag pr o blemlos abdeckte, sehr gelegen.
Natürlich hätte er auch ein paar Anrufe tätigen und seine »Beziehungen« spielen lassen können. Dann hätte man seine Mutter sicher auch ohne Garantiezahlung au f genommen, aber jetzt, wo er die Wahl hatte, wollte er das nach Möglichkeit vermeiden.
Dies war eine andere Facette von Chinas Wirtschaft s reform, die er nicht gutheißen konnte. Was passierte mit den Leuten, die keine Garantiezahlung leisten konnten und keine Beziehungen hatten? Ein Krankenhaus sollte nach menschlichen Kriterien organisiert sein.
Doch in den Neuzigern war jeder nur auf Geld aus. Xiang qian kan, »nach vorne schauen«, so lautete der revolutionäre Slogan, doch er wurde bösartig verbal l hornt, indem man das Zeichen für »vorne« mit dem gleich ausgesprochenen Zeichen für »Geld« vertauschte: »aufs Geld schauen«. Selbst die Krankenhäuser unterl a gen den Gesetzen der Marktwirtschaft. Auch Ärzte und Schwestern wollten leben, und ihr Verdienst richtete sich nach den Einnahmen des Krankenhauses.
Während er mit der Krankenschwester sprach, trat Weiße Wolke ins Zimmer.
»Meine Mutter muß für eine Untersuchung ins Kra n kenhaus«, erklärte er ihr, nachdem er aufgelegt hatte.
»Krankenhäuser sind inzwischen ganz scharf darauf, alle möglichen Untersuchungen durchzuführen, auch wenn sie gar nicht unbedingt nötig sind. Immerhin tre i ben sie die Rechnung in die Höhe. Die sind bloß aufs Geld aus«, sagte Weiße Wolke. »Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen, Oberinspektor Chen.«
»Mag sein. Danke, Weiße Wolke«, erwiderte er.
Er hatte sich auch schon gefragt, warum diese Unte r suchung unbedingt stationär durchgeführt werden mußte. Seine Mutter hatte seit Jahren über Magenbeschwerden geklagt, und niemand hatte etwas Ernstes dahinter ve r mutet.
»Ich kann heute morgen für Sie ins Krankenhaus g e hen, das Geld einzahlen, die nötigen Vorbereitungen tre f fen, und Ihre Mutter begleiten. Das gehört zu meinen Aufgaben als kleine Sekretärin. Sie können mich jede r zeit anrufen und sich erkundigen; Sie haben ja die Nu m mer meines Mobiltelefons.«
Was würde seine Mutter denken? Er hatte ihr nichts von seiner kleinen Sekretärin erzählt; doch in diesem Moment hatte er keine andere Wahl.
»Sehr gut. Sagen Sie ihr, daß ich am Nachmittag oder Abend selbst vorbeikommen werde. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Weiße Wolke.«
»Nicht der Rede wert«, sagte sie, während sie eine braune Papiertüte im Kühlschrank verstaute. » Roast Beef mit Dampfbrötchen. Gestern abend hatten Sie ja nicht einmal Zeit, Ihr Steak aufzuessen. Ich nehme an, Sie m ö gen Rindfleisch. Zu Mittag müssen Sie alles nur kurz in die Mikrowelle stellen.«
Wieder war er dankbar für ihre Hilfe.
Dann war Parteisekretär Li mit seinem Anruf an der Reihe.
»Hauptwachtmeister Yu sagt, Sie wollten etwas mit mir besprechen. Worum handelt es sich, Oberinspektor Chen?«
»Stimmt. Hauptwachtmeister Yu hat mich über die neuesten Entwicklungen informiert. Deswegen wollte ich mit Ihnen reden.«
»Nur zu.«
»Seit unserem letzten Gespräch habe ich viel über den Fall nachgedacht. Sie haben ja betont, daß wir immer auch an die politischen Auswirkungen denken sollten, und wie Sie sagten, wollen die höheren Stellen den Fall ohne politisches Aufsehen gelöst sehen. Meines Erac h tens ist es daher bedeutsam, die Sache zu entpolitisi e ren.«
Nach einer bedeutungsvollen Pause fuhr Chen fort: »Wenn wir den Fall jetzt Hals über Kopf abschließen – mit Wan als Mörder –, dann könnte das den Interessen der Partei schaden …«
»Wie meinen Sie das, Oberinspektor Chen?«
»Sollte Wan sich zweifelsfrei als der Mörder herau s stellen, dann muß er natürlich bestraft werden, das ist überhaupt keine Frage. Aber seine Aussage läßt noch immer vieles offen; darauf hat Hauptwachtmeister Yu ja bereits hingewiesen. Warum lassen wir uns also nicht ein paar Tage länger Zeit?«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Oberi n spektor Chen.«
»Bei der Pressekonferenz werden die Leute erfahren, wer
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