Schwarz
Stecknadeln. Doch er griff hinaus, bekam den Rahmen eines Fensterladens zu fassen und tastete eben nach dem anderen, als sein Blick auf einen der Wachmänner fiel. Der lag in unnatürlicher Haltung vor dem Eingang, Blut hatte sein Hemd verfärbt. Und die Hand des anderen hing im Fenster der Wachstube. Es war immer noch jemand hinter ihm her. Er geriet in Panik.
Im Nu war er an der Tür und schaute durch den Spion auf den Flur – niemand zu sehen. Doch der Killer war auf dem Weg zu ihm, das wusste er. Vor lauter Angst konnte er nicht mehr klar denken. Er hatte keine Waffe, wo bekäme er Hilfe? Taylor vertippte sich zweimal, als er die Nummer des UN-Hauptquartiers wählte, aber die Telefone funktionierten immer noch nicht. Und es würde ihm auch niemand rechtzeitig helfen können. Die Furcht brannte im ganzen Körper, am liebsten wäre er geflohen, unsichtbar geworden oderhätte irgendetwas anderes getan, nur um nicht erleben zu müssen, was unweigerlich näher rückte. Waren das die letzten Augenblicke seines Lebens?
Taylor befand sich nicht im Schockzustand. Er fühlte sich nicht unnatürlich ruhig oder heiter, er zitterte nicht, und sein Sehvermögen war nicht besser als sonst. Er hörte draußen immer noch den Haboob toben; das Krachen und Poltern verriet, dass der Sturm Gegenstände umherschleuderte. Taylor zuckte zusammen, als eine herumschwirrende Fliege auf seinem Handrücken landete. Das Entsetzen packte noch fester zu. Er sah den Killer mit dem eiskalten Blick schon vor sich, hörte den Schuss, spürte den Schmerz, die Todesangst, die Leere … Vor allem aber wuchsen in ihm die Erbitterung und die Wut, dass gerade er so jung sein Leben verlieren musste. Nie dürfte er Olivia als Baby im Arm halten und sehen, wie seine Kinder heranwuchsen, mit Helen zusammen alt werden …
Hier sollte er sterben? In diesem unpersönlichen Gästezimmer in Khartoum, umgeben nur von abgewohnten Möbeln, nach Zigarettenrauch riechenden Gardinen und einigen Fliegen? Einsamer konnte sich ein Mensch gar nicht fühlen. Helen und die Kinder würden sicher um ihn trauern, aber wie lange, ein Jahr oder zwei, und in fünf Jahren wären von ihm garantiert nur noch verblasste Erinnerungen und ein oder zwei Fotos auf dem Kaminsims übrig. Und Olivia würde ihren Vater nie erleben. Der unbekannte Killer wollte ihm seine Zukunft stehlen, die Hälfte seines Lebens, die noch vor ihm lag.
Taylor verriegelte die Fenster von innen, schob eine schwere Kommode vor die Tür und holte aus der Küche ein Messer, mehr fiel ihm nicht ein. Um Mut zu fassen, stellte er sich vor, wie er zur Waffe griff und sich auf den Killer stürzte … Sein Puls beschleunigte sich noch mehr, und ihm wurde schwarz vor Augen, er fühlte sich schwach und unfähig. Er war kein Mann, der sich mit anderen schlug, im Gegenteil. Auch im Internat in Winchester hatte sich Leo für sie beide geprügelt. Lohnte es sich überhaupt, Widerstand zu leisten? Sofort fielen ihm etliche Varianten ein, wie er bei dem Versuch, den Killer zu besiegen, scheitern könnte. Seine Panik war so groß, dass ihm übel wurde. Er atmete heftig. Wie ein schlimmerTraum kam es ihm vor, paralysiert und widerstandslos auf seinen Tod zu warten. Erinnerungen tauchten auf: Oliver im Sommerurlaub beim Baden an der Küste der Bretagne, Helen, wie sie im durchsichtigen Pyjama ihr Haar kämmte …
Wenigstens würde er nicht umsonst sterben, beschloss Ewan Taylor, holte mit zitternder Hand den Stick aus der Hosentasche und eilte zu seinem Computer. Am Ende des Textes der Witwenmacher-Datei fügte er eine kurze Nachricht an, überlegte einen Augenblick und versteckte den Stick so, dass auf der ganzen Welt nur ein Mann imstande wäre, ihn zu finden. Dann krachte ein Schuss an der Tür, der ihn lähmte. Vor Angst bebend, schaute er zu, wie die Kommode von der Tür weggeschoben wurde. Ewan Taylor machte in die Hosen, er fühlte sich wie ein Kind, er wollte in Sicherheit sein, sich in einem Schoß verkriechen, an einem geheimen Ort verstecken, zu dem kein Mensch Zugang hätte …
Sein Atem stockte, er schwankte und setzte sich auf den Fußboden. Er wollte nicht aufblicken und seinem Ende in die Augen sehen, aber ein Fünkchen Hoffnung lebte immer noch in ihm, vielleicht fiel ihm doch ein Ausweg ein … Taylor hob den Kopf, und sein Gesicht verriet Fassungslosigkeit, als er sah, wer der Killer war. Er hatte einen entsetzlichen Fehler begangen und sein Leben in die falschen Hände gelegt, begriff Taylor, kurz bevor
Weitere Kostenlose Bücher