Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
Antisemitismus großzügig hinweg. Damit wurden auf jüdischer Seite alte Ängste wieder genährt, die die Kirche seit der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils zu überwinden versucht hatte. Ein wichtiges Thema dieses Konzils, zu dem sich zwischen 1962 und 1965 die meisten Bischöfe und Kardinäle sowie viele Theologen versammelten, war die Bestrebung, nach dem großen Verbrechen der Shoah und dem moralischen Versagen der Kirche, das Verhältnis zum Judentum auf eine neue Grundlage zu stellen. In der Theorie hat es da durchaus viele Fortschritte gegeben. Leider fehlt es auf jeder Ebene der Kirche und trotz der vielen Anstrengungen Einzelner immer noch an der notwendigen Sensibilität und dem Bewusstsein dafür, dass die Kirche aufgrund einer vielhundertjährigen Verstrickung in jüdisches Leiden eine Bringschuld gegenüber dem Judentum hat. Deshalb ist der Prozess der Versöhnung der Kirche mit dem Judentum bis heute nicht so weit gediehen, wie er vielleicht sein könnte, es ist eben kein Gras über die Schuld der Vergangenheit gewachsen und kleine, ja kleinste Anlässe können erhebliche Irritationen auslösen und diesen Prozess ins Stocken bringen. Einen solchen Anlass mit der unsensiblen Handhabung der Sache Williamson geschaffen zu haben, das ist der mindeste Vorwurf, den man der Kirche und dem Papst machen muss.
Kirchliche Judenfeindlichkeit seit der Spätantike
Es ist klar, dass die Kirche den Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten nicht befürwortet hat und nicht an seiner Organisation beteiligt war. Ebenso ist klar, dass einzelne Mitglieder der Kirche und etliche kirchliche Institutionen verfolgten Juden geholfen haben. Und mutige Kirchenführer haben vor dem Antisemitismus gewarnt, auch das muss man nicht eigens betonen. Doch es ist nun einmal so, dass eine der Bedingungen, die die fast vollständige Vernichtung des europäischen Judentums in der Mitte des 20 . Jahrhunderts ermöglichten, in Handlungen und Unterlassungen der Kirche liegt, mit denen sie über Jahrhunderte lang Juden gegenübergetreten ist. Und weil auch diese unselige Tradition noch nicht ausgestorben ist, sondern in vielen Winkeln der Kirche fortlebt, muss davon gesprochen werden.
Um den spezifischen Anteil der Kirche am jüdischen Schicksal, an Verfolgung und Massenmord während der nationalsozialistischen Herrschaft zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Geschichte erforderlich. Bis weit ins Mittelalter hinein war das Verhältnis von Christen und Juden jedenfalls im Gebiet des heutigen Mitteleuropa frei von blutigen Konflikten. Überall im früheren Römischen Reich lebten Juden, auch im heutigen Deutschland existierte seit spätestens 321 in Köln eine jüdische Gemeinde. Eigene Rechtsvorschriften für Juden, die diskriminierenden Charakter aufwiesen, wurden im Jahr 438 von dem oströmischen Kaiser Theodosius II . erlassen. Aufgrund dieser Bestimmungen wurden viele Synagogen zwangsweise in Kirchen umgewandelt. Theodosius stand dabei unter dem Einfluss seiner älteren Schwester Aelia Pulcheria, einer fanatischen Christin. Der Codex Theodosianus , so der Name der kaiserlichen Rechtssammlung, erlangte Geltung im Oströmischen beziehungsweise Byzantinischen Reich und dann auch bei den Westgoten. Als die Westgoten in der Völkerwanderungszeit ins nördliche Spanien zogen, hatten sie diese Gesetzessammlung im Gepäck. Die Juden auf der Iberischen Halbinsel, die sogenannten Sepharden, hatten somit von vornherein einen schwereren Stand als ihre in Mitteleuropa lebenden Glaubensbrüder, die Aschkenasen, deren Zentren sich in den alten Römerstädten am Rhein – in Speyer, Worms und Mainz – herausgebildet hatten. Dort lebten Juden zunächst unangefochten unter der Herrschaft der jeweiligen Bischöfe.
Christliche Kirchenväter und Theologen hatten indes schon seit Jahrhunderten die Meinung begründet und verbreitet, die Juden seien insgesamt als Volk am Kreuzestod Jesu schuld. Daher habe sie Gott zur Strafe aus ihrem Land vertrieben und zu einem unsteten Wanderleben verdammt. Von da war der Schritt nicht mehr weit, auch jeden einzelnen Juden als Christusmörder zu diffamieren und ihm einen grundsätzlich verruchten Charakter zuzuschreiben. Über Generationen wurde von der Kirche dieses Bild vermittelt. Kein Wunder, dass sich ein ungemein populäres Vorurteil von »dem Juden« als zwielichtigem, mit dem Bösen im Bunde stehendem Menschen herausbildete, gegenüber dem Misstrauen angebracht sei. Zu einem ersten
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