Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
mit seiner Amtsdauer von 26 Jahren das zweitlängste Pontifikat in der Geschichte aufweisen, das relativiert die Zahl etwas. Von den 482 Heiligen sind 402 Märtyrer, die also wegen ihres Glaubens den Tod erlitten haben. Auch das erklärt die große Zahl der Heiligsprechungen unter Johannes Paul II .: Er hat nämlich mehrfach ganze Gruppen von Märtyrern, die unter ähnlichen Umständen starben, auf einmal heiliggesprochen, so 103 Märtyrer aus Korea, die zwischen 1839 und 1867 starben, 106 , die zwischen 1745 und 1862 in Vietnam ihr Leben ließen, und 120 getötete China-Missionare aus der Zeit zwischen 1648 und 1930 . Die »Bekenner«, also Christen, die eines natürlichen Todes starben, stellen nur 80 der Heiligen aus der Zeit von Johannes Paul II . Die meisten von ihnen haben sich in ihrem Leben mit der Gründung eines neuen Ordens ausgezeichnet, dann folgen andere bedeutsame Ordensleute. Normale Geistliche und nicht geweihte Laienchristen machen eine verschwindende Minderheit aus. Wohl als polnische Spezialität des verstorbenen Papstes ist die Heiligsprechung der polnischen Königinnen aus dem späten Mittelalter, Kinga und Hedwig, die zur Missionierung von Litauen beigetragen haben, zu bewerten. Dann gibt es den heiligen Juan Diego, den legendären mexikanischen Indio, dem die Madonna von Guadalupe erschienen sein soll. Aus dem 20 . Jahrhundert, und damit wenigstens historisch fassbar, stammen Giuseppe Moscati (gest. 1927 ), der als Armenarzt in Neapel tätig war, und Gianna Beretta Molla (gest. 1962 ), die trotz erheblicher Risiken auch ihr viertes Kind austrug, statt eine medizinisch begründete Abtreibung durchführen zu lassen, und daran starb. In ihrem Heimatort Mesero bei Mailand hat das Erzbistum Mailand inzwischen ein eigenes Heiligtum in einer nicht mehr genutzten Pfarrkirche zu ihrer Verehrung eingerichtet, das rege von Lebensschützern besucht wird. Der erst beginnende Kult um den heiligen Arzt Moscati wird offenbar von den Jesuiten gepflegt, er zeigt sich deshalb bisher eher unspektakulär. Aber das kann sich noch entwickeln, denn ein »heiliger Arzt« hat in dem sehr speziellen Milieu des neapolitanischen Katholizismus schon noch ein erhebliches Potenzial, Gläubige zur Verzückung zu bringen.
Reliquien: geraubt, zerteilt, verehrt
Die Verehrung eines lieben Heiligen geschieht auf ähnliche Weise, wie zu allen Zeiten Menschen ihre lieben Angehörigen, ihre Stars und Idole verehrt haben. Am besten ist es, wenn man nahe bei ihnen ist. Ist das nicht möglich, hilft ein Gegenstand, der mit der geliebten Person verknüpft ist, oder ein Bild, um sich der Existenz der geliebten Person zu vergewissern. Von Heiligen, die bei ihrer Kanonisation ja schon lange tot sind, ist in den meisten Fällen allerdings nur ihr Skelett erhalten, Textilien und andere Habseligkeiten verrotten schnell, auch Briefe oder Bilder gab es in der Antike kaum. Die Überbleibsel der Heiligen, im kirchlichen Sprachgebrauch Reliquien genannt, begannen, eine wichtige Rolle zu spielen. Wo sie sich befanden, waren die Heiligen präsent – und dorthin wollten die Gläubigen.
Mit dem Zustrom von Pilgern war für den Zielort ein Aufschwung verbunden, der auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben konnte. Damit wurde das rein religiöse Interesse an den Reliquien bald überlagert, es ging um Geld und um Macht. Reliquien wurden zerteilt, verkauft, verschenkt und geraubt. Einzelne Körperteile, Schädel, Beine, Arme, Hände, ja winzige, unansehnliche Knochensplitter wurden in prächtige Goldgefäße verpackt und mit Juwelen geschmückt. Eines der schönsten Beispiele für diese Gepflogenheiten ist der Kölner Dreikönigenschrein aus dem 12 . Jahrhundert, der neben Reliquien des heiligen Gregor von Spoleto (gest. 303 ) auch die Gebeine der Heiligen Drei Könige enthalten soll, die zur Krippe kamen, um dem neugeborenen Jesuskind zu huldigen, wie die Bibel berichtet. Die Knochenreste hatte der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel 1164 als Kriegsbeute in Mailand mitgenommen, wohin sie einige Jahrhunderte zuvor aus Konstantinopel gekommen waren. Enthalten sind außerdem Knochen eines etwa zweijährigen Kindes, die der Überlieferung nach aus einer Höhle bei Bethlehem stammen sollen und für einen Beleg des Kindermordes durch Herodes gehalten wurden. Solche »handfesten« Beweise für die Wahrheit des Glaubens spielten im Mittelalter eine große Rolle, niemand hätte ernsthaft nach der »Echtheit« solcher Zeugnisse gefragt.
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