Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
Es ist klar, dass die Kirche den Reliquienkult unter Kontrolle behalten wollte.
Sensationen aus dem Mezzogiorno
Der Süden Italiens ist eine Region, in der die Segnungen des modernen Staates nie so richtig angekommen sind; heute noch wird er mit Armut, schlechter Infrastruktur und organisiertem Verbrechen assoziiert. Der Süden Italiens ist aber auch das Land der Wunder und der Heiligen, wo heute noch ganz Unglaubliches geschieht. Beginnen wir im schon erwähnten Neapel, der Stadt Giuseppe Moscatis.
Neapel ist die Stadt des Blutwunders, wo dreimal im Jahr in den Händen des Erzbischofs in einer Ampulle aufbewahrtes rotes Pulver einen flüssigen Zustand annimmt; das Volk glaubt, das verschlossene Gefäß enthalte das getrocknete Blut des Stadtpatrons von Neapel San Gennaro oder Sankt Januarius. Es stört die Gläubigen nicht, dass dieses Blutwunder erst seit 1389 , also über tausend Jahre nach dem angenommenen Todeszeitpunkt des Heiligen, bezeugt ist. Ebenso wenig werden kritische Einwände von Wissenschaftlern zur Erklärung des Zustandswechsels gehört. In Neapel will man an solche Wunder glauben, und die Kirche spielt mit – anerkannt hat sie das Blutwunder nämlich nie.
Auf der Halbinsel Gargano, dem Sporn des italienischen Stiefels an der Adria, hat sich in den wenigen Jahrzehnten seit 1968 bis heute die bis dahin ziemlich unbekannte Kleinstadt San Giovanni Rotondo zu einem Wallfahrtsort entwickelt, der mit über sieben Millionen Besuchern im Jahr in Europa nur noch von Rom übertroffen wird und selbst altbekannte Wallfahrtsorte wie Lourdes oder das polnische Tschenstochau längst übertroffen hat. 2004 wurde in dem apulischen Städtchen die nach dem Petersdom zweitgrößte Kirche Europas eröffnet, nach einem Plan des prominenten Architekten Renzo Piano. Zehn Jahre dauerte der Bau dieser Kirche, die 6500 Gläubigen Platz bietet, für weitere 30 000 Besucher ist der Vorraum ausgelegt. Bauherren sind die Patres des Kapuzinerordens, und ihr Mitbruder, der 1968 verstorbene und 2002 heiliggesprochene Pater Pio, der seit 2010 in der Krypta der riesigen Kirche in einem gläsernen Schrein begraben liegt, ist der Grund für die Errichtung dieses Bauwerks. Die Kosten für die neue Kirche müssen im Bereich über 100 Millionen Euro liegen, bezahlt wurden sie aus Spenden.
Kein Heiliger des 20 . Jahrhunderts hat es zu so großer Popularität gebracht, aber es gibt auch keinen modernen Heiligen, der so umstritten ist wie Pater Pio. Seit 1918 war der stets gesundheitlich angegriffene Pater »stigmatisiert«, das heißt, es traten Wundmale an seinen Händen und Füßen sowie auf seiner Brust auf; das sind die Körperstellen, an denen auch Christus bei der Kreuzigung verletzt wurde. Eine Stigmatisation kommt bei Heiligen immer mal wieder vor, bloß sind im Falle Pater Pios die Zweifel nie verstummt, es habe sich um mithilfe von Chemikalien künstlich beigebrachte Verletzungen gehandelt. Als Beichtvater war der Kapuzinermönch beliebt, und die Gläubigen sollen vor seinem Beichtstuhl Schlange gestanden haben, obwohl es offenbar häufiger vorkam, dass er Beichtende nicht von ihren Sünden lossprach, sondern sie wüst beschimpfte. Dem Vatikan war der ungehobelte Mönch suspekt, von 1931 bis 1934 wurde ihm verboten, öffentlich aufzutreten oder die Heilige Messe zu lesen. Papst Johannes XXIII . war ein scharfer Gegner Pios, und zu seiner Zeit versuchte der Vatikan, den Pater mithilfe von versteckten Mikrofonen des Betrugs zu überführen. Gleichwohl blieb der Zustrom der Gläubigen groß.
Zu seiner Popularität dürfte auch beigetragen haben, dass der Kapuzinerpater seit 1940 Geld für die Errichtung eines Krankenhauses sammelte, das 1956 errichtet wurde und nach wie vor als eines der modernsten süditalienischen Hospitäler mit etwa 1200 Betten von dem örtlichen Bistum betrieben wird. Kritiker warfen Pio vor, er habe unerlaubten Umgang mit Frauen gepflegt und faschistische Politiker unterstützt. Die Fans des Mönchs glauben an seine angebliche Prophetengabe, mittels derer er schon 1947 dem jungen polnischen Pfarrer Karol Wojtyla dessen Wahl zum Papst und das beinahe tödliche Attentat auf ihn im Jahr 1981 vorausgesagt haben soll. Und auch die Gabe der Bilokation, also die wundersame Eigenschaft, an zwei Orten gleichzeitig sein zu können, wurde dem Pater von seinen Anhängern nachgesagt. Bei der Beerdigung Pios im Jahr 1968 sollen über 100 000 Menschen zugegen gewesen sein. Von diesem Andrang beeindruckt,
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