Schwarze Blumen auf Barnard Drei
Urteil entzog, man mußte genau hinsehen.
Momentan trugen die Mädchen eine Art Poncho, viereckige Tücher mit einem Loch, um den Kopf hindurchzustecken, den rückwärtigen Zipfel zogen sie zwischen den Beinen nach vorn und befestigten ihn mit mehr oder minder attraktiven Vorrichtungen in der Gegend des Nabels. Die jungen Damen bevorzugten Stoffe in schwebenden Farbtönen, die mit dem Licht wechselnd zu ungewissen Flächen ineinanderflossen. In dieser Sache hatte sich Judy für Karo entschieden. Karo in gut beieinanderstehenden Farben, die schon Tizian gefallen hätten.
»So. Das ist dumm, glaubst du«, sagte sie jetzt. Und plötzlich lebhafter: »Du bist wirklich ein helles Mädchen. Wenn du von der Transversalen gleich bis zur siebenten High durchfährst, sparst du den ganzen Rummel am Grachtenring. Das macht eine halbe Stunde aus.«
»Ach, Judy, bitte!« sagte Rahel und sah sie flehend an. Judy warf einen Blick zum Chronometer. »Ich muß jetzt fahren, Rahel«, sagte sie. »In zwölf Minuten schalten die Automaten ab. Bis dann!« Und während sie sich schon umwandte: »Ich werde es der Bruyns schon beibringen.«
Es war ein Zug der Zeit, daß sich viele junge Leute über einige Jahre hinweg in anderen Weltgegenden bewähren wollten als dort, wo sie geboren waren. Für Judy Bean und Rahel Bruceau hatten gewisse glückliche Umstände, für die sie nichts konnten, dafür gesorgt, daß der Haken am einen Ende dieses Zeitzugs an ihnen einklinken konnte, und so langten sie eines Tages wirklich in der großen Metropole an, in Amsterdam, wo eine Zeitlang zu leben sie sich gewünscht hatten. Sie kamen beide aus der Provinz, Judys lag im fernen Westen Kanadas, Rahels in der Gegend um Arles. Natürlich kannten sie den Betrieb der großen Städte, aber als er ernstlich nach ihnen griff, fühlten sie sich eine Nummer zu klein dafür, und auf der Stelle war ihnen nach nichts mehr als nach Halt und Partnerschaft. Der Zufall warf sie zusammen. Sie hatten ineinander einen standfesten Gegenpol gesehen.
Judy mußte in diesem ersten Eindruck alsbald die Fehldiagnose erkennen, aber immer wenn sie beieinander waren und wenn sie Rahel anschauen konnte, erwachte in ihr das Gefühl, irgendein Wesenszug verberge sich in der Tiefe ihrer neuen Gefährtin, der so war, wie sie aussah. Überdies entsprach es ganz Judys Natur, treu zu sein, und so blieben die beiden aneinander haften.
Ein paar Tage später sagte Rahel munter: »Das ist einfach grauenhaft, jeden Morgen teilt man dir ein paar Krümel zu, abends darfst du herbeten, was das war. Soviel von dem, soviel von dem, Stickstoff bis zur vierten Dezimale, Sigma-Pi-Bindung und Wasserstoffhybriden, Gläschen, Apparätchen, weiße Kittel, Cleanrooms und all das und staubfreie Socken. Und sicher riecht es bei euch.« Sie bohrte ihre Nase in Judys Schulter. »Dein Deo ist gut«, stellte sie fest, »man merkt dir nichts an.«
Judy lachte.
Die Stadt lag tief unter ihnen. Eine Brise aus Nordost hatte die Luft gereinigt, und die fein verschachtelten Konturen begannen im Abend zu verschwimmen, die Stadt rüstete zur Nacht. Das Meer der aufkommenden Lichter glomm zu den Mädchen hinauf wie durch ein dünnes, blauseidenes Segel. Rahel hatte nun einen weiten Weg zurückzulegen von ihrer neuen Wohnung im Norden bis in die City. Es war immer schon ein bißchen spät, wenn sie im Hochpark anlangte, in dem sie mit Judy zusammentraf. Die Mädchen sahen einander weniger häufig.
»Unsere Betriebe und dein Arbeitsraum und meiner werden sich gar nicht so sehr unterscheiden«, sagte Judy.
»Von mir aus kannst du das ruhig annehmen, wenn du willst«, antwortete Rahel ein wenig herablassend. »Aber du glaubst nicht, was bei uns für interessante Leute verkehren. Und sie verschwinden nicht gleich beim Chef, sie kommen in unsere Kabinen, wenn wir gerade ihr Problem bearbeiten. Vorige Woche war Muller da, du kennst die Kanone, der große Muller selbst. Und unsere Gutachten sind manchmal wirklich von Bedeutung.«
»Das freut mich für dich«, sagte Judy. »Diese Leute werden auch alle irgendwas arbeiten müssen.«
Judy nahm die Untiefen und Zwielichtigkeiten im Leben der Stadt mit offenen Augen wahr, sobald sie ihren eigenen Lebenskreis berührten und sichtbar wurden; wie kalt, rüde oder unaufrichtig die Menschen zuweilen miteinander umgingen, allenthalben roch sie den Dunst der Anonymität, der den einzelnen umgab, sobald er in der Menge unterging. Aber nach den
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