Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
und blieb auf dem Rücken liegen. Im nächsten Moment stand er über mir, so dass nichts anderes mehr zu sehen war.
Geh schnell, aber versuche, nicht zu rennen.
Versuche, nicht zu rennen.
Hannah trat aus dem Unterholz wieder auf den Weg an der Ecke des Zauns. Hier draußen war es jetzt viel heller. In der Nähe des Eingangs befand sich ein Scheinwerfer, der einen Lichtkegel über die Wiese davor warf, mit einem unregelmäßigen Schattengitter, das der Maschendraht darüber bildete. Doch sie schaute nur in diese Richtung, um sich davon zu überzeugen, dass niemand dort herauskam. Es war kein Mensch zu sehen. Sie drehte sich um und lief augenblicklich den Weg in Richtung Straße.
Sie ging zügig.
Ihr Herz dagegen raste.
Es ist in Ordnung, dachte sie. Die Sache war einfach: Wenn sie es schaffte, wieder zu ihrem Wagen zu kommen und wegzufahren, wäre es in Ordnung. Denn Neil Dawson saß dort auf dem eingezäunten Gelände in der Falle, und ihre alte Familie würde sich um ihn und alles, was er wusste, kümmern. Sie würden auch seinen Wagen entsorgen. Alles würde einfach verschwinden. Sollte sich irgendjemand an die Nachricht erinnern, die er hinterlassen hatte, konnte sie sich eine Geschichte ausdenken, wonach sie ihn zurückgerufen und die Sache sich erledigt hätte. Niemand bräuchte zu erfahren, dass sie hier gewesen war. Niemand bräuchte je etwas von diesem Ort zu erfahren.
Vor allem aber bräuchte sie keine Minute länger hier zu sein.
So konnte sie es machen.
Hannah schwankte, zwang sich jedoch weiterzugehen. Sie hatte das Gefühl, als drückte sich ihr die Dunkelheit, die Stille in den Rücken, und die Angst trieb sie wieder voran. Vor ihr sah sie auf der rechten Seite den Hochspannungsmast: ein unförmiges Gittergerüst, das sich tintenschwarz vom dunklen Himmel absetzte. Schon konnte sie das unheilvolle Summen hören.
Du schaffst alles, wenn du willst.
Und wieder schwankte sie – diesmal direkt am Rand der Böschung. Sie drehte sich um und blickte zurück.
Von hier aus war das Licht, das durch das Tor fiel, immer noch zu sehen, nur kleiner und unbedeutender, als hätte jemand eine Taschenlampe zu Boden geworfen, ohne sie auszuknipsen. Doch selbst aus dieser Entfernung konnte sie eine winzige dunkle Gestalt erkennen. Nichts weiter als ein flüchtiger Schatten.
Jemand war am Tor.
Hannah blieb stehen. Du kannst nicht zurückgehen. Jede Faser ihres Körpers schrie danach, sich wieder umzudrehen und weiterzugehen. Jetzt konnte sie auch rennen – der Wagen war nur eine Minute entfernt. Die Wiesen und Felder ringsum waren leer und tot. Niemand würde je erfahren, dass sie hier gewesen war.
Du kannst nicht zurück.
Doch das war die Stimme eines verängstigten kleinen Mädchens – eines Kindes, das bis dahin nichts anderes gekannt hatte als brutale Misshandlung und Verwahrlosung – und Angst. Das nie erfahren hatte, was es heißt, sicher aufgehoben und behütet zu sein, bis sie dieses Gefühl im Laufe vieler Jahre verlässlicher Liebe doch noch kennenlernte. Vielleicht war Hannah ja dieses kleine Mädchen, doch sie war zugleich ein ganz anderer Mensch und viele Nuancen dazwischen.
Hannah, du schaffst alles, wenn du willst.
Und bevor sie noch eine Sekunde länger zaudern konnte, rannte sie den Hang hinunter zurück. Ringsum schien das nächtliche Dunkel zu vibrieren, ein grünschwarzer Dunst mit einem Lichtkegel, der vor ihr tanzte und immer größer wurde, je näher sie kam. Als sie das Tor erreichte, trat die Gestalt, die sie dort gesehen hatte, heran. Ohne es zu berühren, kam sie so nah wie möglich.
Ein kleines Mädchen. Hannah erkannte von ihr kaum mehr als eine Silhouette vor dem Licht, doch das genügte. Sie hatte langes, schmutzig blondes Haar, das sie seitlich zu struppigen Rattenschwänzen zusammengebunden hatte, und sie trug ein altmodisches Kleid. Als sie den Ausdruck im Gesicht des Kindes sah, wich Hannah instinktiv ein wenig zurück. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, aber nicht vom Rennen.
Sie näherte sich dem Zaun, so weit sie es wagen konnte, und hockte sich hin. Ihre Jeans straffte sich über den Oberschenkeln.
»Hallo«, sagte sie leise. »Wie heißt du?«
Das kleine Mädchen antwortete nicht, hob jedoch den Kopf ein wenig.
Hannah fragte: »Kannst du mich reinlassen?«
Einen Moment lang passierte gar nichts. Nach ein paar Sekunden blickte das Mädchen weg, dann Hannah ins Gesicht – und nickte. Sie flüsterte, und ihre Stimme klang so zart und verängstigt, dass
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