Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
wenig.
»Nein. Das habe ich nie erfahren. Für mich war es auch immer besser so, und bei einem so außergewöhnlichen Fall wie dem von Charlotte waren sie besonders auf der Hut.«
Charlotte. Wiseman hatte es also nicht einmal für nötig gehalten, ihr einen neuen Namen zu geben. Vermutlich wollte er die Assoziation mit der Charlotte aus Schweinchen Wilbur und seine Freunde nicht opfern, und vielleicht hatte er auch einfach darauf vertraut, dass der Fall weiterhin so unbekannt bleiben und es deshalb nichts ausmachen würde. Wahrscheinlich hieß auch die erwachsene Charlotte jetzt anders. Trotzdem.
Ich schüttelte den Kopf und hätte beinahe nicht mitbekommen, was Mrs. Fitzwilliam als Nächstes sagte.
»Und sie hat nie darüber geredet.«
Ich stellte das Foto zurück. Ich hatte schon die nächste Frage auf der Zunge, als mir bewusst wurde, was sie da gerade sagte.
»Sie haben sie seitdem wiedergesehen?«
»Ja.« Mrs. Fitzwilliam verzog wieder schmerzlich das Gesicht. »Jedes Jahr.«
Ich ging unwillkürlich einen Schritt auf sie zu. Die Hoffnung keimte erneut auf.
»Sie haben sie jedes Jahr gesehen?«
»Ja. Meine Kinder kommen mich oft besuchen, und auch wenn ich inzwischen im Ruhestand bin, steht meine Tür immer allen offen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Sogar für sie.«
Ich hatte das Gefühl, als setzte mein Denken aus, weil zu vieles gleichzeitig auf mich einstürmte.
Ohne zu wissen, was ich tat, kramte ich in meiner Tasche und suchte nach dem Foto, das ich mir vom Carnegie-Krimi-Festival ausgedruckt hatte. Ich hielt es ihr hin, bevor ich es ganz aufgefaltet hatte.
»Ist sie das? Die Frau, die zwischen den beiden Männern sitzt?«
»Lassen Sie mal sehen.«
Sie spähte darauf und musste ihre schlechten Augen so verdrehen, dass die Pupillen fast ganz verschwanden. Dann nickte sie.
»Ja. Sie hat sich seitdem natürlich sehr verändert.«
»Sind Sie sicher?«
»Es ist eine Sache, sich nicht an jedes Kind zu erinnern, aber was anderes, eine erwachsene Frau nicht wiederzuerkennen, die einen regelmäßig besucht.« Sie sah zu mir auf.
Was folgte, spulte sich in Zeitlupe ab. Ich nahm ihr das Blatt wieder ab, und dann hatte ich das Gefühl, als liefe ich rückwärts durchs Zimmer. Ich setzte mich langsam hin und versuchte nachzudenken.
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Vor ungefähr einer Woche. Immer zur selben Zeit. Jedes Jahr.«
Immer zur selben Zeit. Ich betrachtete das Foto der ätherischen Frau – Charlotte –, die zwischen meinem Vater und Robert Wiseman saß. Aufgenommen beim Carnegie Krimi-Festival, das bis zum September 2003 jedes Jahr stattgefunden hatte. Dieses Bild stammte vom September 1989. Wiseman war im September verschwunden. Mein Vater hatte sich im September im Southerton eingemietet.
Endlich fiel der Groschen.
»Sie kommt nach Hause«, sagte ich.
»Ja.« Mrs. Fitzwilliam nickte einmal kurz, dann nahm sie einen Schluck von ihrem Tee. »Sie kommt heim, um ihren Geburtstag zu feiern, den einzigen, den sie jemals hatte.«
Ich schloss die Augen.
Vor so vielen Jahren war das kleine Mädchen im September auf der Promenade aufgetaucht. Als Erwachsene war sie zum jeweiligen Jahrestag zurückgekommen, um den Moment zu begehen, in dem ihr richtiges Leben anfing. In dem Monat war sie auch Wiseman und meinem Vater begegnet. Deshalb war Wiseman im September wieder hierhergekommen, um für seinen Fortsetzungsroman zu recherchieren. Er hatte an dem einen Ort und zu dem einen Zeitpunkt nach ihr Ausschau gehalten, zu dem sie, wie er wusste, mit Sicherheit kommen würde, so regelmäßig wie eine Heimsuchung. Und so hatte sie auch mein Vater gefunden. Nicht durch Detektivarbeit, sondern weil er wusste, wo sie sich an einem ganz bestimmten Tag im Jahr aufhalten würde.
Das hieß für mich, dass ich um diese Zeit keine Chance hatte, sie aufzuspüren.
Ich wollte gerade etwas sagen – ich weiß nicht mehr, was –, als ich eine Vibration an meiner Hüfte spürte.
Und noch eine.
Mein Handy klingelte. Ich kramte in meiner Tasche.
Handy Ally.
Ich gebe Ihnen noch ein paar Tage. Danach ist sie für immer mein.
Ich starrte einen Moment auf das Display. Meine Zeit lief ab. Und mir wurde außerdem klar, dass der alte Mann Allys Handy doch nicht ins Wasser geworfen hatte; er hatte es nur abgeschaltet. Vielleicht hätte ich …
Doch die Chance war jetzt vorbei.
Ich schloss einen Moment die Augen, drückte dann auf Rufannahme und hielt das Handy ans Ohr.
»Ich bin’s«,
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