Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
entspannt.
Hannah kam ein Gedanke. Konnte das die Frau auf dem Filmmaterial der Überwachungskamera zusammen mit Dawson sein? Bis jetzt bestand noch keine offensichtliche Verbindung zwischen den beiden Fällen, doch wenn sie grob nachrechnete, kam das Alter wohl in etwa hin.
Hannah beugte sich tiefer über das Foto. Schwer zu sagen. Trotz des wilden, abwehrenden Ausdrucks war das Mädchen noch sehr klein, mit unfertigen Zügen. Wenn Hannah ihr jetzt, als Erwachsene über den Weg liefe, wäre sie nicht sicher, ob sie die Frau wiedererkennen würde. Die Frau auf dem Film mit Christopher Dawson wiederum war so weit weg und so undeutlich zu erkennen gewesen, dass für sie das Gleiche zutreffen konnte.
Hannah blätterte weiter. Die nächsten beiden Fotos waren seitlich an dieses Blatt geheftet. Auf dem oberen war die Handtasche abgebildet, auf dem unteren eine gepresste Blume.
Eine schwarze Blume.
In Hannahs Brust krampfte sich etwas zusammen.
Das war nicht in Ordnung. Da stimmte etwas nicht.
Ein Zufall. Konnte gar nicht anders sein. Das menschliche Gehirn suchte unwillkürlich nach Parallelen, dem Wiedererkennungseffekt. Reiner Zufall.
Das hier hatte nicht das Geringste mit der Geschichte zu tun, die ihr Vater ihr als Kind immer vorgelesen hatte, diejenige, nach der sie an dem Tag gesucht hatte, als sie sich ängstlich und niedergeschlagen fühlte und sich schließlich auf dem Speicher wiederfand, wo sie nicht das Buch, sondern die Karte und den Hammer entdeckte.
Doch als sie jetzt auf dieses Foto starrte, hatte sie das Gefühl, als träten die Regale hinter ihr zurück, als verstummte das Geräusch des Rollwagens, bis nur noch sie und die Blume und ihr pochender Puls übrig waren. Sie saß einfach nur da und wusste nicht, was sie machen sollte. War gar nicht in der Lage, etwas zu tun, schon gar nicht, zur nächsten Seite umzublättern.
Tu’s, Hannah. Find’s raus.
Du schaffst alles, wenn du willst.
Der Gedanke drängte sich ihr mit Wucht ins Bewusstsein, und sie war mit einem Schlag hellwach. Sie erkannte die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf, und im selben Moment schien sie ihre Entschlusskraft wiederzuerlangen, die sie ebenso sicher von ihm geerbt hatte wie ihr Aussehen, ihr Blut. Also blätterte sie weiter, stieß auf die Befragungsniederschrift und las.
Und es war doch kein Zufall.
Es musste Zufall sein, war es aber nicht.
F: Kannst du uns sagen, wie du zu der Stelle gekommen bist, über die wir gesprochen haben? Vor dem Café in der Main Street?
A: Ich bin meinem Daddy und meinem Bruder weggelaufen. Wir hatten in der Straßenbahn einen Streit, und ich bin aufgestanden und abgesprungen.
F: Worum ging es bei dem Streit?
A: Ich weiß nicht. Ich war unglücklich. Ich bin schon immer unglücklich gewesen. Mein Daddy und mein Bruder machen eine Menge Sachen, die ich nicht mag. Sie tun mir weh. Mein Daddy tut mir weh, und er sagt meinem Bruder, dass er mir auch weh tun soll.
F: Wie tun sie dir weh?
A: Nicht so wie den anderen. Aber wir schlafen in der Scheune, und sie schlagen mich, und manchmal bekomme ich nichts zu essen.
F: Wann passiert so etwas?
A: Wenn ich die Eier zerbreche oder Milch verschütte. Oder wenn ich nicht ordentlich gefegt habe, weil … man muss genau richtig kehren, sonst kommen die Muster falsch raus. Wenn ich was nicht richtig mache, wird mein Daddy böse.
F: Tun sie dir auch anders weh?
[Keine Antwort]
F: Was ist mit deiner Mutter?
A: Sie ist die ganze Zeit traurig, weil sie auch unglücklich ist. Mein Daddy bringt viele Bücher nach Hause mit, und sie liest mir die Geschichten vor und sagt mir, alles wird gut.
F: War sie in der Straßenbahn dabei, als ihr Streit hattet?
A: Ja. Sie war stolz auf mich, weil ich gemacht habe, was sie machen wollte.
F: Sie wollte auch aus der Bahn springen?
A: [nickt energisch] Ja. Ich hab sie durchs Fenster gesehen, als sie wegfuhr, und sie sah aus, als ob sie Angst hätte, aber ich glaube, sie war sehr stolz auf mich.
F: Ganz bestimmt. Dazu hatte sie auch allen Grund. Du bist ein sehr mutiges kleines Mädchen, nicht wahr?
[Keine Antwort]
F: Kannst du mir etwas über dein Zuhause erzählen? Es ist ein Bauernhof, richtig?
A: [etwas lebhafter] Ja. Es ist ein Haus und ganz, ganz viele Wiesen und Felder. Wir haben Kühe und Schafe und Menschen und Hühner. Und auch Schweine.
F: Ihr habt Menschen?
A: Ja.
F: Und du kümmerst dich um alle?
A: Ja, schon. Ich bin fürs Melken, Waschen und Saubermachen da. Aber das Töten und
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