Schwarze Fluten - Roman
Schicksal – habe, auf das ich zugehen könnte.«
Ich ließ mich auf ein Knie nieder, um auf gleicher Höhe mit ihm zu sein. »Wenn wir deine Mutter zurückholen würden, dann wäre sie wie du.«
»Wie ich. Sie würde sich körperlich nie verändern. Würde von der Zukunft heimgesucht. Könnte Roseland nie verlassen.« Er warf einen Blick auf die Leiche von Victoria. »Außer dadurch, noch einmal getötet zu werden.«
Das war mir neu. »Du kannst Roseland nicht verlassen?«
»Sie sagen … sie meinen, ich würde aufhören zu existieren, wenn ich das täte. Ich bin außerhalb der Zeit, außerhalb meiner Zeit, und in einem Jahrhundert, in das ich nicht hineingehöre. Vielleicht werde ich nur von dem Energiefeld am Leben erhalten, von Teslas Feld, das ganz Roseland umfasst.«
Falls das stimmte, dann hatte ich ihn nur gerettet, um ihn zum Tode zu verurteilen, auf die eine oder andere Weise.
Die Biester hatten Jam Diu, Mrs. Tameed und vielleicht auch Constantine Cloyce getötet und mir dadurch erspart, so viele Menschen töten zu müssen, wie ich angenommen hatte. Vielleicht hatten sie mir sogar erspart, der Rächer zu werden, der ich nicht sein wollte. Und wenn ich Roseland zu Fall brachte und dem letzten der Außenseiter, wahrscheinlich Henry Lolam, ein Ende bereitete, dann hatte ich vielleicht das Leben aller Frauen und Kinder gerettet, die dieser wahnsinnigen Schar in den kommenden Jahrzehnten zum Opfer gefallen wären. Das war ein gutes Tagewerk, vor allem für einen Grillkoch, der gerade keine Arbeit hatte.
Allerdings hatte Timothy, dieses ewige Kind, das durch Bücher weise geworden und an seinem Leiden gereift war, auf eine ganz besondere Weise überlebt. Die Vorstellung, ihm nur helfen zu können, indem ich ihm ein Ende bereitete, bestürzte mich. Nach allem, was er hier erlitten hatte, nach den schrecklichen Dingen, die er gesehen und gehört hatte, hatte er sich noch immer seine Unschuld bewahrt, zumindest in dem Sinn, dass er schuldlos, arglos, harmlos und unverdorben war. Er verdiente etwas Besseres als einen zweiten Tod.
Hätte ich sein Schicksal gestalten können, so hätte ich ihm Leben, Hoffnung und Glück geschenkt. Leider habe ich keine derartige gottgleiche Kraft. Ich bin nur ein reisender Entsorgungsfachmann, der dorthin geht, wohin er gehen muss, um den einen oder anderen Schlamassel zu beseitigen und dann zur nächsten Katastrophe weiterzuziehen.
Als der Junge mir erklärte, er würde nicht mehr existieren, sobald er durchs Tor des Anwesens ging, wusste ich nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Ich konnte nur die Arme um ihn schlingen und ihn fest an mich ziehen. Offenbar war dies das Richtige, denn er erwiderte meine Umarmung, und einen Moment lang gaben wir uns gegenseitig Kraft, tief im Labyrinth von Roseland verborgen, während Biester durch andere Gänge und durch die von der Sonne beschienene Welt über uns schlichen auf der Suche nach Menschenfleisch.
Auf dem Weg zu der Gabelung des Tunnels, von der mir Victoria Mors erzählt hatte, sagte ich: »Ich möchte dir gern jemanden vorstellen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will einfach bloß zurückgeschickt werden. Wieder ein Timothy sein, nicht zwei, bloß einer, der 1925 gestorben ist, wie es mir bestimmt war.«
»Vielleicht ist das tatsächlich das Beste«, gab ich zu. »Aber oft ist das, was wir wollen, nicht das Beste für uns. Im Gästeturm ist eine Freundin von mir, eine sehr nette Frau. Ich will erfahren, was sie denkt, bevor wir entscheiden, was wir tun.«
»Wer ist sie?«
»Ich würde praktisch alles darum geben, wenn ich die Frage beantworten könnte, Tim.«
Als der mit Kupfer ausgekleidete Gang sich schließlich tief unter dem makellosen Rasen von Roseland gabelte, wandten wir uns nach rechts, dem Gästeturm zu.
Timothys Behauptung, er könne außerhalb von Roseland nicht existieren, hatte mich so beschäftigt, dass mir erst jetzt auffiel, was er noch an Merkwürdigem von sich gegeben hatte. »Du hast gesagt, wenn man deine Mutter zurückholen würde, dann würde sie von der Zukunft heimgesucht.«
»In der Vergangenheit bin ich tot, und da ich dort gestorben bin, gehöre ich nicht in die Gegenwart. Dennoch bin ich am Leben. Meine Gedanken sind sowohl innerhalb wie außerhalb der Zeit. Vielleicht ist das der Grund, weshalb … ich Dinge sehe, die eventuell geschehen werden.«
»Die Zukunft?«
»Das nehme ich an.«
»Als ich das erste Mal in dein Zimmer gekommen bin, da hast du auf deinem Sessel gesessen, und deine
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