Schwarze Fluten - Roman
keine Krankheit, sondern ein Gefühl, das glücklich macht. Wir nennen es das Befreiungsfieber.«
»Um was für eine Befreiung soll es da gehen?«
»Wir sind befreit von allem, was uns früher unmöglich vorgekommen ist. Jede Begierde kann so leicht befriedigt werden, wie sie entstanden ist. Und jede Begierde geht irgendwann in etwas über, das noch unerhörter ist. Die Möglichkeiten, die vor uns liegen, sind grenzenlos.«
Gemeinsam hatten wir den Weg zu jener Kreuzung von Selbstliebe und Selbsthass gefunden, die heutzutage so in Mode ist. Dass ich diesen Ort mit Verstand und Herz erkannte, musste in Victorias Augen bedeuten, dass ich davon genauso fasziniert war wie sie und bereit, ein Leben zu leben, das ein Werk des Todes war.
Manchmal scheitert man, weil man kein Risiko eingeht. Deshalb ging ich das Risiko ein, meine Beretta ins Holster zu stecken.
Victoria drückte Timothy an sich, den Arm um seinen Hals gelegt, die Mündung ihrer Pistole an seiner Schläfe.
In seinen Augen glaubte ich sowohl Furcht wie Erleichterung zu sehen. Letztere machte mich traurig.
Victoria ließ ihn los. Sie ließ ihre Waffe sinken, bis die Mündung zu Boden zeigte.
»Als ich dir in den Mund gespuckt hab«, sagte sie und schenkte mir ihr elfenhaftes Lächeln, »da muss dir der Geschmack wohl gefallen haben.«
Ich zog meine Pistole und schoss ihr aus nächster Nähe zweimal in die Brust, bevor sie den Arm mit ihrer Waffe heben konnte.
48
Bis auf die Wunden und das Blut war die auf dem Boden des Tunnels liegende Victoria eine elfenhafte Schönheit. Kein Wunder, war sie nun doch von der Wesensart befreit, die nicht zur Anmut ihres Körpers passte.
»Schau nicht hin«, sagte ich zu dem Jungen.
»Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«
»Egal«, sagte ich, »schau nicht hin. Geh ein Stück weit in den Tunnel hinein. Ich komme gleich nach.«
Er gehorchte.
Meine Übelkeit hatte nachgelassen. Die pulsierenden Lichter in den Wänden waren gar nicht dafür verantwortlich gewesen. Übel war mir geworden, weil ich gewusst hatte, was ich Victoria antun würde, sobald ich sie getäuscht und dadurch ihr Vertrauen gewonnen hatte.
Ich schuldete dieser Frau nichts, als was ich ihr gegeben hatte, und obwohl sie so jung ausgesehen hatte, war ihr Tod nicht verfrüht gewesen. Dennoch ist der Tod immer in erster Linie der Tod, selbst wenn er noch etwas anderes darstellt, zum Beispiel ausgleichende Gerechtigkeit.
Trotz allem, was sie getan hatte, war sie vor langer, langer Zeit einmal eine andere Person gewesen, die noch nicht jede Unschuld weggeworfen hatte. Aus Achtung vor diesem besseren Menschen, der sie einmal gewesen war, hätte ich mir gewünscht, eine Decke über sie werfen zu können, statt sie einfach so in der Demütigung ihres Todes liegen zu lassen.
Mein Sportsakko hätte nur ihren Kopf und ihren Oberkörper bedeckt, was mir wie eine Verhöhnung vorgekommen wäre.
Ihre Neun-Millimeter-Pistole lag auf dem Boden. Weil ich meinen Munitionsvorrat so rasch verbrauchte, hob ich die Waffe auf. Ich nahm das Magazin heraus – und sah, dass es leer war. Auch in der Kammer steckte keine Patrone.
Da hatte Victoria ihre Munition also bereits verbraucht gehabt, bevor wir einander begegnet waren. Weder für mich noch für Timothy hatte sie eine echte Bedrohung dargestellt.
Ich schob das Magazin in die Pistole zurück, die ich neben der Leiche auf den Boden legte.
Nichts hätte anders laufen können. Was geschehen war, war das Einzige, was hätte geschehen können. Dennoch war dieser Moment alles andere als ein Höhepunkt in meinem Leben.
Ich wandte Victoria den Rücken zu, während ich das Magazin meiner Beretta nachfüllte. Dann folgte ich Timothy in den Gang hinein. »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Nein. Als das letzte Mal alles in Ordnung war, da war meine Mutter noch am Leben.«
Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast gesagt, niemand kann aus der Gegenwart in die Vergangenheit reisen und dort irgendetwas tun, um die Gegenwart zu verändern.«
»Angeblich hat Tesla das gesagt, und es scheint zu stimmen.«
»Dein Vater hat dich aus dem Jahr 1925 zurückgeholt, aus einem Moment, kurz bevor er dich versehentlich erschossen hat, aber deine Leiche lag trotzdem noch auf dem Rasen neben deiner toten Mutter und dem Pferd.«
»Ja. Mein Leben hat geendet, als er mich erschossen hat.«
»Aber dennoch bist du hier, als Paradoxon. Du bist am Leben … aber ohne dich jemals zu verändern.«
»Weil ich kein Leben – kein
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