Schwarze Fluten - Roman
mehr wie ein Kind statt wie ein alter Mann in einem Kindeskörper.
Mit der Hand strich sie ihm sanft das Haar zurück und legte dann die Handfläche auf seine Stirn, als wollte sie feststellen, ob er Fieber hatte.
Vor mir geschah offenkundig etwas Bedeutsames, aber ich hatte keine Ahnung, was das sein mochte.
Die dritte Öllampe, die mit dem klaren Glas, stand auf der Ablage in der Kochnische. Ihr Docht war wohl unrein, denn die Flamme flatterte und wurde manchmal länger, bis sie kurz in den langen, schmalen Hals des Gefäßes züngelte, bevor sie sich wieder zurückzog.
Annamaria ergriff wieder mit beiden Händen die Hand von Timothy. »Wie hast du dich all die Jahre über Wasser gehalten?«, fragte sie.
»Mit Büchern«, sagte der Junge. »Tausenden von Büchern.«
»Dann müssen das die richtigen Bücher gewesen sein.«
»Manche waren es, manche nicht. Man kann herausbekommen, welche was sind.«
»Und wie bekommt man es heraus?«
»Zuerst dadurch, wie man sich fühlt.«
»Und später?«
»Indem man nicht nur das liest, was auf der Seite steht, sondern auch das, was nicht da steht.«
»Zwischen den Zeilen«, sagte sie.
»Unter den Zeilen«, sagte er.
Ich war bei dieser Begegnung so nutzlos, dass ich mich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlte, sondern eher wie das fünfte Rad an einem Dreirad.
Plötzlich lenkte mich ein von draußen kommender Lärm von dem Gespräch der beiden ab. Es war ein Scheppern und Klappern, das mich ans Fenster lockte. Ich zog den Vorhang auf und presste die Stirn ans Glas, um besser nach unten schauen zu können.
Ein Stockwerk unter mir umschwärmte eine Meute aus erregten Biestern den Gästeturm. Beide Arten waren vertreten, die scheußliche und die noch scheußlichere. Ich hörte sie grunzen und schnauben, und dann erklang wieder das laute Scheppern, als eines seine Axt an das Eisengitter krachen ließ, von dem das Fenster direkt unter meinem geschützt wurde.
Selbst wenn die Angreifer den Stein weghackten, in den das Gitter eingebettet war, und wenn sie es schafften, die Eisenstäbe herauszureißen, waren die Fenster zu klein, um sich hindurchzuquetschen. Die Biester waren primitiv, emotional sprunghaft, psychisch labil und nicht ganz dicht in ihrer Schweineschwarte, aber sie waren nicht so dämlich oder so tollwütig, als dass sie vergeblich stundenlang die Fenster attackiert hätten, wenn doch die Tür sie erwartete.
Diese Tür war mit Eisen beschlagen, aber nicht vollständig von Metall umhüllt. Zwischen den eisernen Kanten und Bändern blieben Holzflächen frei, auf die man einhacken konnte. Sie war zwar extrem dick und dazu geschaffen, eine Belagerung durch ausreichend dumme Ungetüme zu überstehen, die schlimmstenfalls versuchten, sie eintreten – aber für einen Angriff von mit Äxten und Hämmern bewaffneten Biestern war sie nicht ausgelegt.
Victoria Mors hatte gesagt, die Biester seien noch nie so bewaffnet gewesen und hätten bis zu dieser vollen Flut nur simple Knüppel dabeigehabt. Cleverer seien sie geworden, hatte sie gesagt.
Eines von ihnen sah mich am Fenster stehen. Es kreischte mich an und schüttelte die geballte Faust. Seine Wut steckte die anderen an, worauf alle zu mir hochschauten, blutrünstig heulten und Fäuste oder Waffen schwenkten.
Ich dachte daran, dass Enkelados und die anderen Giganten von den Felsen zermalmt worden waren, die sie aufgetürmt hatten, um den Himmel zu erreichen und Krieg mit den Göttern zu führen. Allerdings gehörte ich nicht zu den Göttern, und das mittlere Geschoss des Turms war nicht so weit vom Boden entfernt wie der Himmel.
Ich wandte mich vom Fenster ab, um die mir weitgehend unverständliche Unterhaltung zwischen Annamaria und Timothy zu unterbrechen. »Die Biester sind da«, sagte ich. »Sobald sie auf die Idee kommen, die Tür zu bearbeiten, bleiben uns höchstens noch zehn Minuten.«
»Dann machen wir uns doch darüber in frühestens acht Minuten Sorgen«, erwiderte Annamaria, als wäre die Meute draußen nichts Gefährlicheres gewesen als eine Avon-Beraterin, die uns ihr neues Sortiment an Kosmetikprodukten vorstellen wollte.
»Nein, nein, nein«, rief ich. »Du hast keine Ahnung, was die Biester sind. Wir hatten noch keine Zeit, über sie zu sprechen.«
»Und jetzt haben wir auch keine Zeit dazu«, erklärte sie kurzerhand. »Was ich mit Tim zu besprechen habe, geht vor.«
Der Junge und die Hunde schienen ihr beizupflichten. Sie grinsten mich alle an, amüsiert von meiner Nervosität wegen
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