Schwarze Fluten - Roman
faulen wir.‹« Na ja, wem’s gefällt.
An ihrem gequälten Ausdruck war zu erkennen, dass Constantine Cloyce ihr etwas Ähnliches als eigene Schöpfung vorgegaukelt hatte, als poetische Doktrin seiner Ideologie.
»Nein«, sagte sie, »das heißt anders. Ganz anders! Es heißt … ›Und so von Stund’ zu Stunde reifen wir, und so von Stund’ zu Stunde faulen sie .‹ Die anderen faulen, ihr fault, ihr ahnungslosen Ticker fault zu Tode, nicht wir!«
Tränen standen ihr in den Augen, rührten mich jedoch nicht. Wahrscheinlich waren sie so ätzend wie das Gift einer Natter.
»Du mieser kleiner Scheißer, du hast alles ruiniert!«, klagte sie mit solcher Bitterkeit, dass klar war: Ich hatte mehr ruiniert als ihr verkommenes Leben in Roseland. Ich hatte zumindest einen Samen des Zweifels in ihr gesät, was den Mythos anging, den Constantine Cloyce geschaffen hatte, um ein Leben ohne Grenzen, Regeln und Angst zu rechtfertigen. Und ich hatte eine schmale Kerbe in das Band »ewiger Liebe« gesägt, die Victoria an den Herrn von Roseland fesselte.
Sie machte den Eindruck, als wollte sie aus reiner Bosheit das Risiko eingehen, den Jungen zu töten, in der Hoffnung, dann auch mich zu erwischen, bevor ich sie erschoss.
Hätte sie das getan, so hätte sie nach ihren geliebten Prinzipien gehandelt: Neid, Gier und Hass; Sex, Macht, Kontrolle, Rache.
»Ich habe keineswegs alles ruiniert«, hörte ich mich sagen. »Noch nicht. Wir können noch immer alles einrenken, wenn du dazu bereit bist.«
Zwar war ich nicht sicher, wohin diese Worte mich führen würden, wusste aber, dass ich es nicht wagen konnte, Timothy anzuschauen. Victoria hätte aus jedem Blickwechsel geschlossen, dass ich immer noch sein Beschützer und ihr Feind war.
»Da kann nichts mehr eingerenkt werden«, sagte sie. »Alle von uns sind tot . Du hast die Biester ins Haus gelassen, und die haben alle umgebracht.«
»Ich hab sie nicht hereingelassen«, widersprach ich, was eigentlich keine Lüge war. Auf jeden Fall hatte ich nicht vorgehabt , sie hereinzulassen. »Außerdem sind gar nicht alle tot. Du bist noch am Leben. Henry Lolam im Pförtnerhaus. Und Constantine, soweit ich weiß. Du und Roseland können weiterleben … wenn ich bekomme, was ich will.«
»Lass dir mal sagen, was ich will!« Worauf sie mir erklärte, sie wolle mir eine Kugel in den verfluchten Bauch verpassen, mir den verfluchten Kopf abhacken sowie meine verfluchten Fortpflanzungsorgane abschneiden und sie mir in mein verfluchtes Maul stopfen.
Obwohl ich die Glasröhren, in denen Lichtblitze gleichzeitig in gegensätzliche Richtungen zu pulsieren schienen, nicht direkt betrachtete, brachte mich diese Erscheinung völlig durcheinander. Ich hatte das Gefühl, der Tunnel sei ein langer Eisenbahnwagen, der durch den Untergrund raste und dabei leicht hin und her schaukelte, wie Eisenbahnwagen das tun. Victoria war mit dieser Wirkung vertraut und wurde davon wahrscheinlich nicht aus dem Konzept gebracht. Mir hingegen wurde zunehmend flau im Magen. Wenn sich daraus ein ausgewachsener Brechreiz entwickelte, dann endete die Pattsituation womöglich, sobald meine Gegnerin sah, dass ich desorientiert war.
Ohne es vorzuhaben verfiel ich als Reaktion auf ihr Gezeter plötzlich darauf, den fiesen Burschen zu spielen und so zu tun, als wäre meine frühere Persönlichkeit so unecht wie der Name Victoria Mors. »Du siehst verdammt heiß aus, aber du bist ein ziemlich dämliches Stück«, sagte ich. »Ist dir nicht klar, dass wir zwei dasselbe wollen? Alle wollen dasselbe, das hast du gerade selbst gesagt.«
»Versuch bloß nicht, mich reinzulegen!«
»Irgendwann wirst du mich anbetteln, ich soll dich rannehmen«, sagte der fiese Odd. »Wenn ich dich das nächste Mal fessle, dann auf ’nem Bett, du Schlampe. Schlag dir jetzt endlich den Schwachsinn aus dem hübschen Köpfchen, damit ich dir ein wenig Grips in deinen leeren Schädel stopfen kann. Wenn wir uns nicht zusammentun, wird niemand von uns überleben!«
Sie blickte argwöhnisch drein, aber ich sah, dass der fiese Odd ihr mehr einleuchtete als der Odd, den sie bisher kennengelernt hatte.
»Ich brauche ein paar Fakten, Vicky«, sagte ich. »Wie lange wird die volle Flut dauern, bevor wir die Biester los sind?«
Sie starrte mich einen Moment wütend an, sagte dann aber: »Vielleicht bloß noch eine Stunde, höchstens zwei oder drei.«
»Und wann kommt normalerweise die nächste volle Flut?«
»Das wissen wir nicht im Voraus. Es kann
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