Schwarze Fluten - Roman
extrem gefährlich. Sie sind die Charles Mansons und Pol Pots unserer Zeit, denen kein Verbrechen zu schrecklich ist, um es nicht zu begehen.
Wir alle sind manchmal im Leben feige, doch ich tröstete mich mit der Tatsache, dass ich bei meiner Flucht keine Verbündeten zurückließ. Da nur mein eigener Hintern in Gefahr war, konnte ich zu Recht behaupten, mein Handeln sei eher Vorsicht als Feigheit. Jedenfalls redete ich mir das ein, während ich Hals über Kopf in das Tälchen floh, in dem ich mit dem Gartenmobil vorher einen Moment stehen geblieben war. Ich unterdrückte das Bedürfnis, mir in die Hose zu machen, und wandte mich nach Norden in der Hoffnung, es zu Fuß zum Gästeturm zu schaffen. Durch solche Selbsttäuschungen überleben wir – und setzen dabei auch den wesentlichsten Teil von uns aufs Spiel.
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In diesem Teil von Roseland war das Gelände ausgesprochen unübersichtlich; Anhöhen und kleine Täler gingen so ineinander über, dass ich mich an die Falten und Furchen an der Oberfläche des Gehirns erinnert fühlte. Um im Bild zu bleiben, war ich ein Gedanke, der durch diese Strukturen jagte, und dieser Gedanke lautete: Beweg dich, beweg dich, schließlich willst du weiterleben!
Ich hielt mich immer in den Tälern, die teils im Schatten von steilen Hängen lagen, teils in dem von darauf wachsenden Banyanbäumen. In der Talsohle, wo der Boden immer ein wenig feucht blieb, war ich von Kalifornischem Lorbeer geschützt. Ich flitzte von Baum zu Baum, duckte mich unter niedrigen Ästen hindurch und rannte rasch über offene Flächen. Jedes Mal, wenn sich die Landschaft verzweigte, verließ ich mich auf meine Intuition, um meinen Weg zu finden.
Ganz darauf konzentriert, möglichst schnell vorwärtszukommen, wagte ich es nicht, mich umzublicken und dadurch ins Stocken zu geraten. Falls die Biester näher kamen, wollte ich das ohnehin lieber nicht wissen, bis mich eine Klauenhand am Sportsakko packte und von den Beinen holte oder bis eine Axt mir den Schädel spaltete, mich augenblicklich tötete und mir das ersparte, was mir blühte, wenn man mich lebend erwischte.
Erst vor wenigen Stunden hatte ich gemütlich in der Küche des Haupthauses gesessen, um Quiche und Käsekuchen zu verzehren. Da hatte mein größtes Problem noch darin bestanden, die streng gehüteten Geheimnisse von Roseland zu ergründen und zu kapieren, was seine Bewohner eigentlich meinten, wenn sie ständig in Rätseln sprachen.
Rätselhaft benahmen die Schweinedinger sich wenigstens nicht. Sie machten keine Wortspiele, sie taten nicht so, als wären sie abgelenkt, und sie verzichteten auch auf alle sonstigen Täuschungsversuche. Was diese Biester vorhatten, war sonnenklar: Sie wollten mir eins über den Kopf geben, mich zerhacken, mich fressen und später gemütlich dahocken, um nachzukosten, wie ich geschmeckt hatte. Kurz, ihre Absichten waren so unverkennbar wie die von Finanzbeamten.
Inzwischen hatte mein Weg sich so oft verzweigt, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich mich auf den Gästeturm zubewegte oder weg davon. Ich hätte mich nicht einmal gewundert, auf der nächsten Anhöhe das verlassene Gartenmobil mit den Breitreifen zu sehen und daneben die drei Biester, die Karten spielten, während sie darauf warteten, dass ich im Kreis und ihnen direkt in die Arme lief.
Mehrere Male schimmerte die kühle Luft, als würden Hitzewellen aufsteigen, und am Rand meines Blickfelds sah ich Dinge, die nicht da waren, wenn ich den Kopf drehte, um sie genauer zu betrachten. In manchen Fällen handelte es sich wohl um Schatten, die nur aus dem Augenwinkel bedrohlich aussahen. Andere Bilder waren hingegen spezifischer: ein großer Haufen menschlicher Schädel, Kojoten, die sich an mehreren toten Biestern gütlich taten, eine nackte, an einen Pfahl gefesselte Frau auf einem Scheiterhaufen, den in Umhänge gehüllte Gestalten mit Fackeln in Brand setzten …
Eine dieser Visionen verschwand nicht, als ich sie direkt ins Auge nahm. Ich kam gerade aus einem Lorbeerwäldchen, und einige Meter vor mir befand sich ein Felsvorsprung, an dem der Weg sich teilte. Direkt an dieser Gabelung stand ein blattloser Baum mit schwarzen Ästen, den jemand in ein Mobile aus von der Sonne gebleichten Knochen verwandelt hatte. An den Ästen hingen die zarten Skelette von Kindern, die teilweise wohl erst drei Jahre alt gewesen waren, als man sie ermordet, entkleidet und zu diesem wahnsinnigen Monument der Grausamkeit arrangiert hatte. Älter als zehn war
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