Schwarze Heimkehr
Motor und eine solide Karosserie hatte, und sog den Geruch der sorgfältig gepflegten Ledersitze ein. Einen Augenblick lang erinnerte er sich an die Zeit, als er achtzehn Jahre alt gewesen war. Er hatte damals nur an Mädchen und Autos denken können, in dieser Reihenfolge oder auch anders herum, je nach seiner Stimmung. Vielleicht war er der Sorglosigkeit damals in seinem Leben am nächsten gekommen. Aber er war im Gegensatz zu Jenny Marsh in Hell's Kitchen aufgewachsen, wo alles Wichtige einen Preis gehabt hatte. Jeden Tag ein anderes Schlachtfeld, ein anderes Territorium, auf dem man um seinen Ruf oder ein Mädchen kämpfen mußte. Immer gab es irgendeinen Heißsporn, der scharf darauf war, einem den Schädel auf dem Bürgersteig einzuschlagen.
Während er auf den Besucherparkplatz von Harbour Pointe fuhr, fragte er sich, wie es gewesen wäre, wenn er Jenny schon während ihrer unbekümmerten High-Schoolzeit gekannt hätte, aber er konnte es sich nicht vorstellen.
Die Concierge hielt ihn an, obwohl er einen Schlüssel hatte. Sie sah eine von den Besitzern der Wohnungen angefertigte Liste mit den Namen jener Leute durch, die Schlüssel besaßen. Matty, die gehofft hatte, daß er bei ihr bleiben würde, hatte seinen Namen an dem Abend eingetragen, als er bei ihr geschlafen hatte.
Oben ging er gleich in Rachels Zimmer. Alles sah genauso aus wie beim letzten Mal. Er trat an die Frisierkommode und öffnete die unterste Schublade, wo er das große Duftkissen fand. Er löste sorgfältig das Band, das das Tuch zusammenhielt, und zog zwischen den wohlriechenden Krümeln getrockneter Blumen und würziger Kräuter ein kleines Tagebuch hervor. Alles war so, wie Gideon es ihm erzählt hatte.
Er setzte sich auf Rachels Bett und strich mit der Hand über den Deckel aus dunkelblauer Pappe, der an den Ecken mit dunklem Kunstleder eingefaßt war. Dann öffnete er das Tagebuch und begann, die Seiten mit heftig klopfendem Herzen zu überfliegen.
Der erste Eintrag stammte vom 1. Januar dieses Jahres. Er blätterte die Seiten schnell durch. Rachel hatte nicht jeden Tag eine Eintragung vorgenommen, sondern sich auf die Schlüsselerlebnisse des Jahres beschränkt. Sie gehörte offensichtlich nicht zu den Mädchen, die Notizen wie »Aufgestanden, Ärger mit Mama, Schule, Gideon getroffen, Drogen genommen« in ihr Tagebuch kritzelten.
Als er konzentriert zu lesen begann, erkannte er, daß es sich weniger um ein Tagebuch handelte als um den Bewußtseinsstrom des Innenlebens seiner Nichte. Es war keine einfache Lektüre. Es gab so intime Seiten der menschlichen Seele, daß es schockierend war, wenn sie sich offenbarten. Hier wohnten deformierte Eigenarten: seltsame Wünsche, bizarre Sehnsüchte und sogar Obsessionen - die Dämonen, die den Menschen antreiben, aber nie ans Tageslicht kommen dürfen. Rachel hatte das Bedürfnis gespürt, diese Schatten ans Licht kommen zu lassen, und jetzt brütete Croaker über ihnen wie ein Schamane, der aus den Knochen eines heiligen Tieres lesen mußte.
Als er zur Hälfte durch war, legte er das Tagebuch zur Seite und blickte auf. Er sah Rachel am hinteren Ende des Schlafzimmers stehen, und sie blickte ihn an, als wäre sie wirklich anwesend. Sie sah nicht wie das sterbende Mädchen aus, das er im Krankenhaus zurückgelassen hatte, sondern glich dem Mädchen auf dem Foto mit dem Kleid für den Schulball - feierlich, aber gesund.
Die Erscheinung öffnete den Mund und sprach die Worte, die er gerade gelesen hatte: »Heute ist irgend etwas zerrissen. Als Mama mir erzählte, daß Donald tot ist, traf mich ein Geräusch, als ob ein Blitz einschlagen würde. Mama studierte meinen Gesichtsausdruck sehr genau, um zu sehen, wie ich reagieren würde. Also zeigte ich keine Reaktion. Ich saß einfach da und starrte auf meine Cornflakes. Und dann dachte ich daran, wie grausam Donald und ich uns zwei Jahre lang gegeneinander verhalten hatten, indem wir vorgaben, daß es vorbei war, während es eigentlich anders war. Dieser Gedanke hat mich zerstört. Ich kann es nicht erklären, aber ich hatte diesen seltsamen inneren Drang, mir mit einem Messer die Pulsadern durchzuschneiden. Ich hätte es vielleicht auch getan, hätte ich nicht an Gideons Trauer gedacht. Zehn Minuten lang habe ich mir ihr Gesicht und mein Blut auf dem Fußboden vorgestellt. Ihr Gesicht, mein Blut. Ich kann ihr das nicht antun.
Aber ich will es. Der Schmerz zieht mich wie ein Magnet an. Ich will auch kopfüber in dieses kalifornische Gebirge
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