Schwarze Herzen
Vernunft. Sie leckte sich über die Lippen und fragte sich, was wäre, wenn sie einen heimlichen Blick wagte? Dadurch würde sie nicht gleich sein Leben ruinieren und …
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, atmete er scharf ein. „Nicht“, sagte er.
„Es tut mir leid, ich …“
„Nein. Nicht aufhören.“
11. KAPITEL
N icht aufhören . Meinte er damit, sie sollte sich ruhig ein Herz fassen und seinen Lendenschurz beiseiteschieben? Oder schlicht anfangen, sich um seine Wunden zu kümmern, wie sie es versprochen hatte? Schon jetzt schien er nervös, angespannt, und sie hatte ihn regelrecht überreden müssen, wenigstens dieses kleine bisschen Fürsorge zuzulassen. Aus Angst, ein Missverständnis zu riskieren, lehnte sie sich vor und tupfte mit einem der Stoffstreifen vorsichtig das Blut von seinem Gesicht. Markieren wir also wieder mal den Feigling, ja?
Sein herber, männlicher Duft stieg ihr in die Nase, wie eine mitternächtliche Brise, die vom Meer herüberwehte. Unerklärlicherweise erinnerte sein Geruch sie an ihr Zuhause. Eine blühende, farbenfrohe Welt voller Schönheit, die sie seit ihrem widerwilligen Amtsantritt als Hüterin des Höllentors nicht mehr gesehen hatte. Wie sie ihr fehlte.
„In all dieser Zeit, die ich dich nun schon kenne“, sagte sie, während sie sorgsam darauf achtete, den tiefsten Schnitt auszusparen, „habe ich dich nicht ein einziges Mal deinen Posten verlassen sehen. Isst du niemals?“ Beim ersten Kontakt ihres improvisierten Tuchs mit seiner aufgeschürften Haut war er kurz zusammengezuckt. Doch sie machte unbeeindruckt weiter, und allmählich entspannte er sich unter dem stetigen Rhythmus der langsamen, kreisenden Bewegungen, mit denen sie die geschwollenen Wundränder säuberte.
Vielleicht, eines Tages, würde er ihr erlauben, mehr für ihn zu tun als das. Und dann? Würde sie ihn rücksichtslos unterwerfen, wie sie es mit den anderen getan hatte? Diese Frage geisterte noch immer in ihrem Kopf umher. Falls es eine Chance gab, dass es mit ihm anders … Was soll das denn? Sie war doch schon zu dem Schluss gekommen, es wäre ein zu großes Risiko. Aber Hoffnung konnte ungemein hartnäckig sein.
„Nein“, antwortete er. „Es besteht für mich keine Notwendigkeit dazu.“
„Wirklich nicht?“ Selbst sie, eine Göttin, musste essen. Ihr Körper könnte zwar ohne Nahrung überleben, das ja, aber mehr auch nicht. Nach und nach würde sie zu einer substanzlosen, wandelnden Hülle werden. Deshalb versorgte man sie sogar in der Hölle mit randvoll gefüllten Obstkörben und frisch gebackenen Broten, die ihr einmal wöchentlich gebracht wurden – zusammen mit einer ellenlangen Liste ihrer aktuellen Verfehlungen. „Wie kannst du dann am Leben bleiben?“
„Schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass ich ohne Essen auskomme, seit ich hier bin. Vielleicht beziehe ich meine Lebenskraft aus den Flammen oder dem Rauch.“
„Und du vermisst es überhaupt nicht? Den Geschmack, meine ich, und die verschiedenen Beschaffenheiten?“
„Ich habe schon so lange keinen Krümel Essbares mehr gesehen, ich denke eigentlich kaum noch daran.“
Umso mehr Grund, ihm ein Festmahl zu bereiten. Wenn sie könnte, würde sie ihn aus diesem Albtraum herausholen, ihn in einen Bankettsaal entführen, in dem lange Tafeln mit unzähligen Leckereien jeglicher Art, Form und Farbe beladen waren. Wie gern hätte sie ihn dabei beobachtet, wie er sich begeistert von allem eine Kostprobe auf seinen Teller lud, genussvoll den ersten Bissen in den Mund schob, die Augen schloss. Niemand sollte auf so grundlegende Freuden des Lebens wie diese verzichten müssen.
Als sie mit seinem Gesicht fertig war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit seinem rechten Arm zu. Böse Klauenspuren starrten ihr entgegen, dem Aussehen nach zu urteilen sehr schmerzhaft. Was sich jedoch weder in seinen Worten noch in seinem Verhalten niederschlug. Nein, er schien sogar … geradezu selig zu sein.
„Leider habe ich keine Medizin, um deine Schmerzen zu lindern.“
„Das macht nichts. Ich bin dankbar für deine Hilfe, und ich hoffe, es dir eines Tages vergelten zu können. Was nicht heißen soll, ich würde mir wünschen, dass du verletzt wirst“, fügte er rasch hinzu. „Das ist das Letzte, was ich will.“
Wieder einmal hoben sich ihre Mundwinkel langsam zu einem bezaubernden Lächeln. „Ich hatte schon verstanden, was du sagen wolltest.“
Nachdem sie die notdürftige Versorgung seiner Wunden abgeschlossen hatte, legte sie die
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