Schwarze Herzen
sie schwebte hinüber, jede ihrer geschmeidigen Bewegungen ein schimmerndes Leuchten im fahlen Zwielicht.
Wozu willst du so unbedingt überleben? Was hat dir das Leben denn bisher Gutes zugestanden? Geryon zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ihr folgte. Tief atmeteer den süßen Duft von Geißblatt ein, der sie umgab.
Und zu seinem Erstaunen kam niemand plötzlich aus den Schatten gesprungen, um sich auf ihn zu stürzen, nichts lauerte in der Dunkelheit, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. War er wirklich frei? Konnte er es wagen, zu hoffen?
Die Göttin drehte sich nicht zu ihm um, als er neben ihr stehen blieb. Gedankenversunken fuhr sie mit der Fingerspitze über den dünnen Riss in der Mitte des Steins. Ein Riss, der sich ausbreitete und verzweigte, sodass er an viele kleine Wasserläufe erinnerte, die sich von einem reißenden Strom aus unaufhaltsam ins Land fraßen.
„Auf den ersten Blick sieht es nicht besonders schlimm aus, ich weiß. Aber der Riss ist schon jetzt doppelt so breit wie gestern. Wenn niemand die Dämonen aufhält, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Mauer fällt und sie in Legionen in die Welt der Menschen strömen.“
„Gelänge es nur einem Einzigen von ihnen, diese Welt heimzusuchen“, murmelte Geryon, „hätte das fatale Folgen. Chaos, Tod und Zerstörung würden über die Menschen hereinbrechen.“
Ob er nun bestraft würde oder nicht, er beschloss, ihr zu helfen. Er durfte nicht zulassen, dass solch eine Katastrophe geschah. Dass den Unschuldigen ihr Glaube an das Gute geraubt wurde, ihr Vertrauen, ihre Zuversicht. Viel zu kostbar waren diese Dinge.
„Angenommen, ich tue es … angenommen, ich helfe Euch …“
Noch immer hatte sie ihm den Rücken zugekehrt.
„Ja?“ Ein atemloses Wispern.
„Verdiene ich mir damit immer noch eine Belohnung? Was auch immer ich will?“ Wie selbstsüchtig er war, danach zu fragen, doch er nahm die Worte nicht zurück.
„Ja.“ Kein Zögern. Ihre Stimme immer noch atemlos. Was erwartete sie wohl, worum er sie bitten würde?
„Also gut, so sei es. Ich akzeptiere den Handel. Ich werde Euch in die Hölle führen, Göttin.“
4. KAPITEL
Ü berrascht holte die Göttin Luft, und ihr Blick flackerte zu seinem Gesicht, ganz kurz nur, ehe sie ihn wieder auf den rauen Stein richtete.
„Du hilfst mir? Obwohl du jetzt weißt, dass du nicht länger ein Gefangener bist? Dass es dir freistünde zu gehen, wohin du willst?“ Diese leuchtenden Augen, die vollen, roten Lippen … Bei ihrem Anblick wurde ihm die Brust eng.
„Ja. Trotzdem.“ Wenn sie die Wahrheit sagte und er wirklich frei sein sollte, gäbe es doch keinen Ort für ihn, an den er gehen konnte. Zu viele Jahrhunderte waren vergangen, und sein einstiges Zuhause existierte nicht mehr. Seine Familie … tot. Und ohne Zweifel würde er mit seiner Erscheinung Angst und Schrecken verbreiten, wo immer er auftauchte. Davon abgesehen, so verlockend die Vorstellung von Freiheit auch war: Seine Bedenken, sich darauf einzulassen, konnte das nicht zerstreuen. Die Göttin selbst mochte vielleicht nichts Böses im Schilde führen, aber Luzifer tat es garantiert.
Bei ihm gab es immer einen Haken an der Sache. Heute frei zu sein bedeutete nicht zwangsläufig, dass er es morgen auch noch wäre. Und die Tatsache, dass er seine Seele nach wie vor nicht zurückerhalten hatte …
Nein. Er wollte sich lieber keine falschen Hoffnungen machen.
„Ich danke dir. Ich hatte nicht damit gerechnet … Ich … Sag mir, warum hast du ihm deine Seele verkauft?“, fragte sie leise, abermals den Riss betastend.
Ein Themenwechsel. Einer, auf den er nicht vorbereitet gewesen war.
„Wie genau kann ich Euch helfen?“, antwortete er rasch mit einer Gegenfrage. Er wollte nicht, dass sie von der Dummheit erfuhr, die ihn in seine missliche Lage gebracht hatte.
Schließlich ließ sie den Arm sinken und sah Geryon direkt an. Sein Blick ruhte auf ihr, und der angespannte Ausdruck wich langsam aus ihrem Gesicht.
„Ich bin Kadence“, stellte sie sich vor, als hätte er nach ihrem Namen gefragt und nicht, wie sie sich den Ablauf ihrer gemeinsamen Mission konkret gedacht hatte.
Kadence . Wie sanft die Schwingungen der Silben in seinem Geist nachklangen, so wunderbar warm, zart wie Seide – bei den Göttern, wie lange lag es zurück, dass er solch einen feinen Stoff berührt hatte? – und süß wie Wein. Wann hatte er das letzte Mal den Geschmack von Wein auf der Zunge gehabt?
„Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher