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Schwarze Küsse

Schwarze Küsse

Titel: Schwarze Küsse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquín Guerrero-Casasola
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verloren.«
    Wir sagten nichts mehr, bis wir am Friedhof Panteón de Dolores angekommen waren, wo nach und nach die Trauergäste aus dem Haus in Tlalnepantla eintrudelten, bis wir uns schließlich alle um das kleine, rechteckige Loch im Boden versammelt hatten. Ich hatte das Telefon im Auto vergessen und wollte mich gerade davonschleichen, als die Hand einer dicken Frau mich am Arm packte. Eine unsichtbare Macht nahm von uns Besitz, und wir bewegten uns wie ein einziger Körper. Zwei Männer bahnten sich mit dem kleinen Sarg ihren Weg durch die Menge, Wintilo war einer von ihnen. Während sie den Sarg in die Grube hinabließen, erklang von überall her Weinen und Stöhnen. Die Frau neben mir heftete ihren Mund an mein Ohr und stieß ein wütendes, verbittertes Brüllen aus.
    Der Priester erschien, nahm am Kopf der Grube Aufstellung und predigte etwas, das im Gesumme der menschlichen Bienen, die um mich herum beteten, unterging. Ich verstand nur, dass es um Gott ging, der seine Schäflein zu sich holt. Er besprenkelte das Grab mit Weihwasser und trat zur Seite, wo ihm ein Mann einige Geldscheine in die Hand drückte, die er einsteckte, ohne hinzusehen. Dann ließ ein neuer Ton die Luft erzittern, der von einer Gruppe Mariachis in schwarzen Anzügen herrührte. Ich beneidete sie um ihre großen Sombreros, die sie vor der Sonne schützten, aber ich hasste ihre Trompeten und Gitarren, die sie ungelenk vor dem Körper trugen.
    Ich wollte mich verdrücken, aber die Frau umfasste meinen Arm immer fester.
    »Ay!«, sagte sie zu mir.
    »Ja, ay«, antwortete ich.
    Als es schon aussah, als ginge das Repertoire an Liedern zur Neige und als würde das Grab von Tränen überschwemmt, stimmten die Mariachis Cartas marcadas an. Wintilo ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, mit gekränkter, wütender Stimme gegen sie anzuschmettern. Während er also sang und diesen und jenen umarmte, machte seine Gesichtshaut ihre Drohung wahr und bildete Risse, durch die seine Tränen strömten, auch wenn ich nicht weiß, ob es wirklich Tränen waren oder doch nur Schweiß. Nicht weit von uns entfernt stand ein trockener, abgekämpfter Baum. Der heiße Dunst, der in der Luft lag, verzerrte mir derart die Sicht, dass ich meinte, ihn brennen zu sehen, auf ewig.
    »Beim Singen prallt jeder Vorwurf von uns ab«, sang Wintilo und umarmte Männer wie Frauen, » ob er nun wahr ist oder nicht …«
    Die unbekannte Frau umarmt mich. Meine Nase versinkt in ihrer Achselhöhle, die nach alter Katze riecht. Blumen und Holzspielzeuge fallen ins Grab, jemand drückt Wintilo den bunten Ball des kleinen Jungen in die Hand. Er kann jetzt nicht mehr singen, sosehr er es auch versucht. Die Gitarren spielen immer wieder den gleichen Akkord, die Zeit ist eingefroren. Wintilo lässt den Ball auf seinen Fingerspitzen kreisen, und die Farben verschwimmen, in seinen hypnotisierten Augen liegt ein Lächeln. Zwei Tränen bleiben ihm in den Augenwinkeln hängen, aber sie fallen nicht, nicht einmal, als er den Ball ins Loch wirft, wo er am Sarg abprallt und dann liegen bleibt.
    »Was will ich mit Reichtümern, wo doch meine Seele und mein Glaube für immer verloren sind?«, singt einer der Mariachis.
    Wintilo entfernt sich. Ich folge ihm. Er geht gebeugt und zitternd wie eine Marionette.
    »Das Leben ist nichts wert, man weint, wenn es beginnt, und man weint, wenn es zu Ende geht.«
    Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er neben einem steinernen Engel zusammenbrechen.
    »Ich ging zur Strafkammer und fragte den Richter, ob es ein Verbrechen sei, dich zu lieben, denn dann soll man mich zum Tode verurteilen …«
    Er brüllt, das Gesicht dem Himmel zugewandt.
    »Und wenn sie mich umbringen, sollen es fünf Schüsse sein, und du sollst bei mir sein, damit ich in deinen Armen sterbe!«
    Ich trete hinter einen Baum und warte darauf, dass Wintilo entweder stehen bleibt oder verreckt. Als ich hervorluge, sehe ich ihn langsam auf den Ausgang des Friedhofs zugehen.
    Wir erreichen das Auto. Das Telefon klingelt. Ich gehe dran: »Judith?«
    »Weißt du, wie die Männer sind, Gil Baleares? Wie Fliegen, du hast es selbst gesagt. Man bekommt Lust, sie an die Wand zu klatschen. Du hast es so hübsch ausgedrückt, dass ich seit jenem Tag nur an Fliegen denke. Wie dumm von mir!« Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals herunter, während Wintilo mich von der Seite anstarrt, am Boden zerstört. »Glaubst du, dass man eine Fliege als Haustier halten kann, Gil? Fliegen sitzen zwar auf der

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