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Schwarze Küsse

Schwarze Küsse

Titel: Schwarze Küsse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquín Guerrero-Casasola
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Scheiße herum, aber sie haben trotzdem ein Recht zu leben. Ich sage nicht so hübsche Sätze wie du, wenn du über Fliegen sprichst … Ach, Gil! Willst du wissen, wie ich hieß, bevor ich Judith wurde? Wirst du mich immer noch lieben, wenn ich es dir sage? Woher ich wissen will, dass du mich liebst? Vielleicht, weil du dir Sorgen um mich gemacht und mich gefragt hast, ob auch ich auf der Straße Prügel beziehe? Hörst du mich? Sag etwas! Lass mich nicht zugrunde gehen! Was ich dir gesagt habe, zerreißt mich innerlich. Antworte mir, ja?«
    »Wo ist Roberto?«
    Judith schweigt einige Sekunden und sagt dann: »Bei der kaputten Jungfrau.«

 
     
     
     
     
     
    E s gibt nur eine Möglichkeit, über die Calzada de Tlalpan zu kommen, und zwar durch die Unterführungen, die zu den Metrostationen führen. Die Metro fährt hier überirdisch, und neben ihr rauschen die Autos entlang, von Norden nach Süden und von Süden nach Norden. Ein orangefarbener Metrozug nach dem anderen rollt heran und stößt sein Tuten aus, das gleichzeitig wild und komisch klingt.
    An der Metrostation San Antonio Abad ging ich die Stufen einer dieser Unterführungen hinunter. In ihrem langen, engen Gang hatten sich Schusterwerkstätten, Verkaufsstände mit Filmen, auf denen Nutten riesige schwarze Schwänze lutschten, ein Friseur, ein kleines Restaurant und sogar ein Fitnessstudio mit vier fest verschraubten, rostigen Fahrrädern angesiedelt.
    Am Ende der Unterführung blieb ich stehen und betrachtete die Jungfrau. Es war dieselbe, die ich auf dem Foto in der Wohnung von Pater Pila gesehen hatte. Ich wusste nicht, ob es die Heilige Jungfrau von San Juan de Los Lagos war oder eine andere, jedenfalls nicht die von Guadalupe. Diese hier trug das Jesuskind in den Armen, das unverhältnismäßig winzig wirkte. Seine kleinen Hände lagen auf seinem Herz. Dem Gesicht der Jungfrau fehlte ein Stück Nase, und der Riss brachte den weißen Gips zum Vorschein und den Draht, der offensichtlich den Kern der Figur bildete.
    »Man sagt, es sei beim Erdbeben von 1985 passiert …«
    Ich blickte diskret zur Seite.
    Er war schmächtiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, dunkel, mit feinen Gesichtszügen. Sein Haar war kurz, aber der Pony reichte ihm bis zu den Augenbrauen. Er trug eine weite Hose und ein dunkelgrünes Sweatshirt, in dessen Bauchtasche er die Hände versteckte.
    »Gehen wir ein Stück?«, fragte er.
    Ich nickte.
    Nachdem er sich vor der Jungfrau bekreuzigt hatte, gingen wir die Treppe hinauf.
    »Pass auf«, sagte er, »die Kanten sind abgenutzt.«
    Er meinte die Eisenverkleidungen der Stufen. Auf Straßenhöhe bogen wir links ab und kamen zu einer Schreinerwerkstatt, die sich bis auf die Straße ausgebreitet hatte, wo mehrere junge Männer dabei waren, Stühle zu reparieren. Überall roch es nach Leim und Sägemehl.
    »Willst du sie kennenlernen?« Er wies auf die jungen Männer. »Wir sind zusammen aufgewachsen …«
    »Wann bist du von Zuhause abgehauen?«, fragte ich.
    »Willst du sehen, wo wir groß geworden sind?«
    »Dazu ist keine Zeit. Wir müssen los.«
    »Judith sagte, du wolltest nur mit mir reden. Warum verfolgst du mich?«
    Ich dachte an Gott, der dasselbe zu Paulus gesagt hatte, und antwortete, wie es der Schöpfer getan hätte: »Damit du auf den rechten Weg zurückkehrst …«
    Er lächelte schüchtern.
    »Du hinterlässt überall schwarze Küsse, Roberto, Maika, oder wie auch immer du dich nennst.«
    Er sah mich an, als hätte ich einen Scherz gemacht.
    »Dein Vater will dich sehen.«
    »Ich habe keinen Vater.«
    »Auch wenn du dich mit ihm zerstritten hast, er bleibt immer noch dein Vater.«
    »Nein, ich habe wirklich keinen, er ist vor langer Zeit gestorben …«
    Ein Auto hielt quietschend an der Straßenecke. Roberto warf mir einen überraschten Blick zu und fing an zu rennen.
    »Bleib stehen, du Dreckskerl!«, kreischte Wintilo, sprang aus dem Auto und zog seine Waffe.
    Wir nahmen gemeinsam die Verfolgung auf. Roberto rannte in die Metrostation und sprang über eins der Drehkreuze, ich hinterher, mit Ach und Krach. Der Wachmann näherte sich, um mich aufzuhalten, aber Wintilo zeigte ihm bereits seinen ›Senf‹.
    Heulend wie ein Schwerverletzter fuhr eine Metro auf dem Bahnsteig ein. Roberto rannte an ihr entlang und warf sich in einen Waggon, sobald die Türen aufgingen. Ich schaffte es ebenfalls hinein, konnte Wintilo aber nirgendwo entdecken.
    Der Lärm eines Megafons sprengte mir fast das Trommelfell. Es war einer

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