Schwarze Piste
Annette kam ihm noch ein wenig verbissener und abgehärmter vor als das letzte Mal. Sie hatte zwar vor einigen Jahren aufgehört, Selbstgestricktes zu tragen. Aber ein Fashion Victim würde aus ihr nicht mehr werden. Das Seidentuch um ihren Hals wirkte unpassend, und der Kaschmirpullover war vermutlich der einzige, den sie besaß, möglicherweise heute Nachmittag eigens gekauft, um Jörg zu beeindrucken. Das jedenfalls vermutete Josepha, als sie Annette umarmte und küsste, wobei küssen zu viel gesagt war, denn die Wangen der Frauen kamen sich nicht näher als fünf Zentimeter. Sophie kam wie üblich zu spät. Man sah es ihr nach. Sie war immer schon unorganisiert gewesen.
Es wurden deftige Speisen bestellt und Bier dazu getrunken. Sophie nahm die Käsespätzle mit Salat. Früher war sie nicht Vegetarierin gewesen, erst seitdem sie den Gnadenhof betrieb, mochte sie kein Fleisch mehr essen. Jörg spottete darüber, aber Sophie war es ernst. Beim Essen wurde Klatsch und Tratsch ausgetauscht, in der Hauptsache, wer von den alten Bekannten sich getrennt und einen Scheidungskrieg angefangen hatte. Hochzeiten waren keine mehr zu vermelden, auch Geburten nicht. Mit Mitte vierzig hatten die meisten das hinter sich. Dafür hier und da ein Todesfall. Den alten AStA-Haudegen Kurt hatte der Lungenkrebs erwischt. War abzusehen gewesen, was der weggeschlotet hatte. Im Nachhinein erklärte das auch die eingefallenen Wangen, die man vor zwei Jahren an ihm wahrgenommen hatte. Dann ein paar Geschichten aus dem Krieg: Wackersdorf, Anti-Pershing-Demo und wie Birgit Hogefeld bei ihnen übernachtet hatte, wenn sie es denn gewesen war. Ja, Jörg hatte die Waffe noch. Eines Tages würden sie ihn verhaften, scherzte er. Die sei mit Sicherheit aus einem Bundeswehrdepot gestohlen. Josepha empfahl, nicht zu viel damit herumzuschießen. Und sie vor dem Zugriff seiner kleinen Tochter zu schützen. Die Kinder neigten heute zum Amoklaufen. Dann kamen sie zum politischen Thema des Tages. Etwas Undenkbares war passiert: Eine amerikanische Großbank war zusammengebrochen. Eine Finanzinstitution – die Lehman Brothers. Ob das nicht der Anfang vom Ende des Kapitalismus sei?
»Das System erledigt sich selbst«, sagte Jörg. »Die Gier frisst den Kapitalismus auf.«
»Wie kann das eigentlich passieren? Hängt deine Bank da auch mit drin?«, wollte Annette wissen.
»Das ist so passiert: Die Amerikaner haben Häuser gekauft wie die Blöden. Nur hatten die eigentlich kein Geld. Zumindest viele von denen. Also haben ihnen die Banken Geld geliehen. Die Sicherheit für die Kredite waren die Häuser. Und die Häuser waren teuer, weil ja jeder gekauft hat. Das hat die Preise nach oben getrieben. So weit alles bestens, das Geld arbeitet und ist durch wertvolle Immobilien gesichert. Irgendwann können einige ihre teuren Kredite nicht mehr bezahlen. Also kommt das Haus untern Hammer und wird verkauft. Ist noch nicht tragisch. Aber wenn das eine kritische Größe erreicht, sind auf einmal mehr Häuser auf dem Markt, als nachgefragt werden. Was passiert? Die Preise sinken. Und was passiert noch? Wenn die Bank vorher ein zweihunderttausend Dollar teures Haus als Sicherheit hatte, hat sie jetzt nur noch eins für hunderttausend. Dann kommt irgendwer auf die clevere Idee, aus den ganzen faulen Krediten Wertpapiere zu machen. Wie das geht, ist zu kompliziert, um es euch zu erklären. Tatsache ist, dass sie die faulen Papiere weltweit verkauft haben. Und als die Immobilienblase endgültig geplatzt ist, war die Kohle weg. Einfach verbrannt. Die schlaueren Banken haben das schon vor Jahren kommen sehen und haben ihre Papiere rechtzeitig an die dümmeren Banken verkauft. Unsere auch. Das heißt, im Augenblick stehen wir gut da. Aber das nützt keinem was, wenn dafür die anderen Banken pleitegehen.«
»Was stört euch das?«
»Das stört uns insofern, als wir anderen Banken Geld geliehen haben. Banken leihen sich untereinander immer Geld, wenn sie sonst nichts damit anfangen können. Und wenn dein Schuldner bankrottgeht, hast du ein Problem. Das ist der Dominoeffekt. Davor haben sie alle Angst. Und wenn so ein Riese wie Lehman in die Knie geht, dann kann alles passieren.«
»Dann hat sich der Kampf der RAF am Ende doch noch gelohnt«, sagte Annette und zupfte mit einem Lächeln ihr Seidentuch zurecht.
»Gar nichts hat sich gelohnt.«
»Wieso nicht?«
»Weil die RAF nichts bewirkt hat. Und zwar deshalb, weil das gelernte Untergrundkämpfer waren. Das konnten die
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