Schwarze Piste
und ging zum Hühnergehege, als wollte er mit dessen Bewohnern die sonderbare Lage besprechen.
Sophie hatte noch Heu in den Stall gebracht, bevor sie starb. Auch Schubkarre und Mistgabel standen anders als heute Morgen. Sie hatte ausgemistet. Daniela nahm die Heugabel in die Hand, und unvermittelt liefen ihr die Augen über, die Tränen kamen wie ein Schwall, als hätte jemand auf die Spültaste gedrückt, strömten über ihr Gesicht und tropften auf den Boden. Es war, als stünde sie neben diesem warmen, salzigen Wasserfall, ohne dass sie etwas tun konnte, um ihn aufzuhalten. Sie tropfte auf Joseph und eine rote Katze mit Geschwür an der Nase. Die Tiere blieben, wo sie saßen, rührten sich nicht, unternahmen es nicht einmal, die Tropfen abzulecken. Als Daniela das bemerkte, flossen noch mehr Tränen. Lange Zeit stand sie auf der gleichen Stelle und weinte, bis sie sich daranmachte, das Heu in den Pferdeboxen zu verteilen. Danach fütterte sie die Katzen und Hunde. Die sensibleren unter ihnen rührten das Fressen nicht an, die weniger einfühlsamen Hofbewohner nutzten die Gelegenheit, sich den Bauch vollzuschlagen.
Als in der Küche der Ofen brannte, setzte sich Daniela im Dunkeln an den Küchentisch und stellte eine Flasche Pflaumenschnaps und ein Glas vor sich. Es war halb neun und still im Haus. Auch von draußen war nichts zu hören. Der Hof lag sechshundert Meter vom nächsten Anwesen entfernt. Manchmal, wenn sie nachts allein waren, hatte sich Sophie geängstigt. Dann hatte Daniela gesagt, es traue sich bestimmt keiner auf den Hof, die Hunde würden sie schützen. Aber die Hunde waren alt und froh, wenn man sie in Ruhe ließ. Der blinde Boxer Tacitus hatte eine furchterregende Stimme, wenn er bellte. Aber das tat er nur selten und nicht unbedingt, wenn sich Fremde näherten, denn er hörte auch schlecht. Und so waren die Hunde keine wirkliche Beruhigung für Sophie gewesen.
Der Schnaps wärmte Daniela. Als sie sich das dritte Glas einschenkte, kam ein Geräusch von draußen. Ein Bellen. Tacitus. Heiser, aber laut. Auch das Licht war angegangen im Hof. Das passierte öfter, denn der Bewegungsmelder reagierte auch auf die Tiere. Daniela überlegte, ob sie nachsehen sollte. Das Bellen des Boxers war wieder verstummt. Drei Katzen saßen jetzt auf dem Fensterbrett und blickten gebannt in den Hof hinaus. Doch im Hof war für Daniela nichts zu erkennen. Sie beschloss, nach dem Rechten zu sehen, und sei es nur, um sich zu beruhigen.
Es schneite nicht mehr. Das Thermometer zeigte zwölf Grad unter null. Daniela blies Kondenswolken in die Nacht und schlich mit einem alten Jagdgewehr in der Hand durch den gelb erleuchteten Hof. Zunächst konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Dann sah sie die Fußspuren. Es waren nicht ihre eigenen. Es waren große Schuhe. Sie kamen von dem Feldweg, der zum Hof führte. Der Feldweg wurde von der Lampe über dem Stalleingang nur schwach beleuchtet. Genug aber, um zu erkennen, dass dort etwas war. Als Daniela den Kopf bewegte, bemerkte sie einen Widerschein. Sie erschrak. Am Feldweg stand ein Auto, und das war nicht da gewesen, als sie nach Hause gekommen war. Der Fahrer hatte den Wagen stehen lassen, sich zu Fuß in Richtung Hof aufgemacht und den Bewegungsmelder ausgelöst.
Die Spuren im Schnee führten zum Geräteschuppen. Er war nach vorn hin offen und bildete einen großen Unterstand für den Traktor und anderes landwirtschaftliches Gerät, das auf dem Hof benötigt wurde. In dem dunklen Bereich hinter den Maschinen konnte Daniela nichts erkennen. Sie hielt sich am Gewehr fest und fragte: »Hallo? Ist da jemand?«
Ein leises Knurren kam als Antwort. Dann tauchte Tacitus aus der Dunkelheit auf und sah Daniela mit seinen blinden Augen an, als mache er sie für die Störung seiner Nachtruhe verantwortlich. Im Schuppen bewegte sich etwas. Im Licht der Hoflampe, das den Boden des Schuppens erhellte, sah Daniela mit einem Mal zwei Bergschuhe.
»Kommen Sie da raus!«, sagte sie. Die Schuhe setzten sich in Bewegung.
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14
L angsam trat der Mann aus dem Schatten der Scheune. Der Hund drängte sich an Danielas Seite, hechelte und gab grunzende Geräusche von sich. Ihr Herz raste, die Hände, mit denen sie das alte Gewehr umklammerte, wurden feucht. Noch bevor sie sein Gesicht sehen konnte, sagte der Mann in der Scheune: »Hallo, ich bin’s! Pass mit dem Gewehr auf!« Es war Kreuthner.
»Spinnst du, mich so zu erschrecken?« Sie ließ das Gewehr immer noch nicht
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