Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
die Gewebespalten der Lunge gepresst worden. Das ließ darauf schließen, dass der Mann beim Eintauchen ins Wasser noch geatmet hatte. Er starb vor mindestens sechs, maximal zehn Tagen.
Die aufgequollene Haut wies Narben auf. Vielleicht würde ihnen das bei der Identifizierung helfen. Ein Gerichtszeichner hatte ein Porträt angefertigt, damit sie etwas hatten, was sie der Presse an die Hand geben konnten. Für ein Foto war das Gesicht zu entstellt.
Dr. Quang schätzte den Toten auf Ende zwanzig. Er war 1,65 Meter groß. Zu Lebzeiten hatte er nur etwa 50 Kilo gewogen. Allem Anschein nach war er ein Raucher gewesen, jedoch kein starker Raucher. Er hatte Abschürfungen an den Handgelenken und den Händen. Weitere Spuren gab es nicht, keine Hautfetzen unter den Fingernägeln, keine spezifischen Dreckspuren auf der Haut, abgesehen von dem Matsch des Flussbetts.
Auch gab es keine Anzeichen für einen Aufprall. Es sprach nichts dafür, dass er von einer Brücke gestoßen worden war. Die Theorie mit dem Boot war also plausibel. Der Mann hätte natürlich auch genauso gut von einer Sandbank ins Wasser gestoßen worden sein können. Nur wieso befand sich dann der Anker als Gewicht am Sack? Das Wasser um die Sandbänke war flach. Der Mörder hätte den Sack also weit hinaustragen müssen, um ihn zu versenken. Nicht besonders wahrscheinlich und mit einem lebenden Mann darin schon gar nicht.
*
Um sechs Uhr sollte das Boot vom Wasserschutz Ly oberhalb der Long-Bien-Brücke abholen. Das hatte der verschlafene Wachhabende dann doch organisieren können.
Ly folgte einem Trampelpfad durch hohes Ufergras bis zum Fluss. Es stank nach faulendem Obst und Abwässern. Hühner staksten auf der Suche nach Futter durch den Schlick. Es war ein ungewöhnlich lauer Abend. Die Sonne stand niedrig und schimmerte auf dem Wasser, das wie Karamell glänzte. Ein Schubfrachter dröhnte. Vor der großen Sandbank in der Flussmitte schwankte ein Ruderboot auf den Wellen. Ein Mann warf ein Netz ins Wasser, gleichzeitig bewegte er mit den Füßen geschickt die Paddel. Am Ufer lagen Hausboote. Verschläge aus Sperrholz und LKW-Planen, die auf Pontons aus Ölfässern schwammen. Zusammengeschnürte Bambusstangen dienten als Stege. Auf einigen Hütten ragten Fernsehantennen empor. Ly zündete sich eine Zigarette an und beobachtete eine Frau, die nasse Wäsche in einem Bottich knetete. Als sie den Kopf hob, nickte er ihr zu.
»Können Sie mit diesem Hausboot auch fahren?«, rief er ihr zu.
Sie lachte laut und herzlich. »Wo denken Sie hin?« Sie kam ihm über den Steg entgegen. Die Hände in die stämmigen Hüften gestemmt, blieb sie vor ihm stehen. »Eigentlich ist es ein ganz normales Haus, wenn Sie so wollen. Nur preiswerter.«
Sie erzählte ihm, dass sie früher auch in der Stadt gewohnt hatte. Der Schwiegervater war krank geworden, Medizin und Beerdigung waren teuer gewesen, und sie hatten die Wohnung mit dem kleinen Laden verkaufenmüssen. Jetzt fuhr ihr Mann Touristen mit dem Cyclo durch die Altstadt, und sie sammelte Altpapier. Jeden Tag ging sie mit ihren Körben am Schulterjoch los, lief durch die Straßen, von Haus zu Haus. Sie zahlte für das Papier einen kleinen Betrag und konnte es gewinnbringend an einen Großabnehmer weiterverkaufen.
»Ist es hier unten am Fluss nicht sehr feucht und im Winter zu kalt?«
Wieder lachte sie. »Sie müssen das positiv sehen. Oben in der Stadt ist es sowieso viel zu eng. Und dann dieser ganze Verkehr. Da haben wir es hier wirklich gut. Immer eine frische Brise.«
Ly lächelte sie an. Sie redete sich ihr Leben schön. Irgendwie gefiel ihm das. Er zog die Porträtzeichnung des Mannes, den sie tot aus dem Fluss gezogen hatten, aus der Hemdtasche und hielt sie ihr hin. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
Die Frau betrachtete das Bild aufmerksam. In diesem Moment donnerte das Motorboot vom Wasserschutz auf sie zu, und sie drehte sich nach dem Geräusch um. Dann sah sie wieder Ly an, und er meinte, so etwas wie Enttäuschung in ihrem Blick zu entdecken. Sie schüttelte den Kopf und verschwand mit schnellen Schritten in ihrer Hütte.
*
Tang Van Xuan warf Ly die Leine zu und zog das Boot, soweit es ging, ans Ufer. Ly sprang an Deck. Der zweite Mann an Bord stellte sich als der Maschinist vor. Der Mann für alles, vermutete Ly. Sein nackter Oberkörper war breit und muskulös, die Haut tiefbraun gegerbt. Alser Ly den Rücken zukehrte, lächelte sanft die heilige Maria, umringt von einem Kranz
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