Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
ihrer Hand lag. Dann nahm sie von jedem der anderen Zutaten etwas: dünne Scheiben Sternfrucht, Kochbanane, Dill, Minze, Salat, Reisnudeln. Geschickt drehte sie alles zu einer Rolle zusammen und reichte sie Ly. Er tauchte sie in Erdnusssoße und kaute bedächtig.
»Eine Frage noch«, sagte Ly vorsichtig. »Die Sampanschiffer unten am Fluss sollen Schmuggelware verstecken. Wissen Sie etwas darüber? Haben die Schiffer vielleicht auch etwas mit Hehlerware zu tun?«
Thanh sah Ly nachdenklich an und sagte dann: »Ich weiß nicht. Ich war noch nie auf so einem Boot. Das ist nicht meine Gegend da unten.«
Ly nickte, und für eine Weile sagte keiner der beiden etwas, aber jetzt war es ein angenehmes Schweigen. Sehr angenehm sogar, fand Ly. Irgendwann begannen sie dann, über gutes Essen zu reden, die Wohnungsnot und wie teuer alles geworden war.
»Diese Inflation, eine Katastrophe«, sagte Thanh. »Die Armen können sich bald kaum noch den Reis leisten. Nicht, dass es früher besser gewesen wäre. Aber da waren immerhin alle gleich arm. Und jetzt, jetzt gibt es in Saigon sogar Geldautomaten, die Goldbarren auswerfen.«
»Es ist verrückt«, sagte Ly. »Die Gegensätze werden immerextremer. Die Stimmung ist kurz vor dem Umkippen.«
»Aber wie wollen Sie das verhindern, Herr Kommissar?«, fragte Thanh. In ihrer Wange bildete sich ein kleines Grübchen. »Der Kommunismus funktioniert ja auch nicht, das haben wir ja zur Genüge am eigenen Leib erfahren.«
Darauf wusste Ly keine Antwort.
Weitere Speisen wurden serviert. Ein kleines, in Honig gegrilltes Freilandhuhn, das zart und knusprig war. Kürbisblätter mit Knoblauch gebraten. Wasserschnecken in chinesischen Medizinkräutern. Sie schmeckten süßlich und hinterließen gleichzeitig einen scharfen Nachgeschmack.
»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Tochter?«, fragte Thanh. »Ich weiß manchmal nicht, was ich meiner erlauben und was verbieten soll. Wie soll man Mädchen heutzutage erziehen?«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Da fragen Sie nicht den Richtigen.« Ly hatte nicht das Gefühl, dass er bei seiner Tochter derzeit viel richtig machte.
»Sie können eine Tochter doch nicht mehr ernsthaft zur Unterwürfigkeit drängen«, sagte Thanh. »Die Mädchen brauchen andere Fähigkeiten, um in der heutigen Zeit zurechtzukommen.«
Ly konnte ihr da nur zustimmen. Er dachte an seine Schwester Tam, an die Prügel, die sie erduldete, ohne sich zu wehren. Er fragte sich, ob sie es schaffen würde, Ngoc zu verlassen. Den Ehemann zu verlassen war gesellschaftlich verpönt, es bedurfte viel Mutes, und er fürchtete, dass Tam den nicht aufbringen konnte.
Mit mulmigem Gefühl dachte Ly an die Fingerabdrücke, die er Nguyen Kim Thanh noch abnehmen musste. Lan würde darauf bestehen, Alibi hin oder her. Er konnte die Worte seiner Assistentin schon hören: »Wer einmal lügt, dem traue nicht …«
Als Thanh kurz auf der Toilette verschwand, griff Ly nach ihrem Löffel und ließ ihn in seiner Hemdtasche verschwinden. Das musste für die Spurensicherung reichen. Er hatte heute Abend keine Lust mehr, Thanh direkt um ihre Fingerabdrücke zu bitten.
Auf den Reis, der das Essen normalerweise abrundete und den Magen schloss, verzichteten sie und bestellten stattdessen noch eine Flasche Weißwein. Sie tranken in kleinen Schlucken, wie um den Abend hinauszuzögern. Ly fühlte sich gut in Thanhs Gegenwart. Wie lange hatte er sich schon nicht mehr so entspannt unterhalten? Er hätte ewig so sitzen können.
»Wollen wir dann allmählich?«, fragte Thanh schließlich. Ein wenig schwankend stand sie auf. Ihre Hand streifte seinen Unterarm. Als sie die Treppe hinuntergingen, hielt er ihren Arm. Er war warm und weich. »Ich habe den Abend sehr genossen«, sagte sie. Er räusperte sich. Ihre Gesichter waren sich so nah, dass er ihre Haut und ihre Haare riechen konnte. Er verspürte einen wohligen Schauder.
*
Die Hitze weckte Ly früh. Er blieb auf dem Rücken liegen und rauchte seine erste Zigarette. Seine Tochter schlief, mit angezogenen Beinen wie ein Kleinkind. Ein warmes Gefühl zog durch seinen Bauch. Er betrachtete sie. IhrKörper hatte seine kantigen Formen verloren, auch wenn sie weiterhin sehr schlank war. Ihr Gesicht war das Gesicht einer Frau. Sein Mädchen wurde erwachsen. Wieso war ihm diese Veränderung bisher entgangen? Oder hatte er es nur ignoriert? Er küsste sie auf die Stirn. Sie gab ein undefinierbares Brabbeln von sich, drehte sich zur Wand und schlief
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