Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
mit ihnen unterhalten?«, fragte Ly.
»Ein bisschen über das Wetter und das prachtvolle Mausoleum, wie mit allen Kunden.« Es tat dem Mann sichtlich leid, dass er nicht mehr sagen konnte.
»In welcher Beziehung standen die beiden zueinander?«
Ohne Zögern sagte der Fotograf: »Es waren Schwestern.«
Ly wurde zunehmend nervös. »Sind Sie sicher?«
»Die Namen sprechen dafür.«
»Die Namen?« Vor Überraschung verschluckte Ly sich und musste husten.
»Meine Kunden zahlen in bar. Ich schicke die Fotos später zu. Ich muss ja erst Abzüge machen und sie einschweißen. Wegen der Luftfeuchtigkeit.« Er zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Hemdtasche und reichte ihn Ly. »Nguyen Thi Bich Sinh und Nguyen Thi Bich Hoa. Sinh, das war die ältere der beiden.«
Ly konnte es nicht fassen. Dieser Fotograf nannte ihm tatsächlich den Namen der Toten vom Tempel. Und eine Adresse. Gasse 48, Chuong-Duong-Do-Straße, Hausnummer 35. Die Chuong-Duong-Do-Straße war in Phuc Tan, dem Viertel der Wanderarbeiter.
*
Die Luft flirrte heiß. Die Straßen in Phuc Tan waren wie ausgestorben, nur ein paar Kinder, die eigentlich in der Schule sein sollten, lungerten unter einem Baum. Die Sonne stand hoch, und der Himmel war ultramarin, ohne das kleinste Wölkchen. Ly fuhr am Son-Hai-Tempel und der Hahnenkampfarena vorbei, die jetzt verwaist dalag. Insekten zirpten. Die Gasse 48 war nur ein ausgetretener Sandweg, das Haus Nummer 35 war das letzte in der Reihe. Es war kaum drei Meter breit, hatte aber vierStockwerke. Ly drückte auf die Klingel, die lose an einem Kabel hing. Über ihm schlug ein Fensterladen. Während er wartete, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Als er sich umblickte, entdeckte er einen kleinen Jungen, der zu ihm hinübersah.
Die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Ein Teenager schaute ihn aus kleinen, verschlafenen Augen an. Seine Haare waren gelb gebleicht, und er trug nichts als Boxershorts in den Farben der amerikanischen Flagge. Sein Oberkörper war knochig. Er kratzte sich unentwegt an den Unterarmen, die mit Schnittnarben übersäht waren. Den kleinen Finger spreizte er dabei ab, der Nagel war lang wie eine Kralle. Ein Zeichen, dass er es nicht nötig hatte, körperlich zu arbeiten. Hinter ihm an der Wand leuchtete eine Neonröhre, die halb mit toten Fliegen gefüllt war.
»Wir haben nichts mehr frei«, keifte eine schrille Stimme. Auf der Treppe erschien eine Frau. Sie sah verlebt aus, wie eine alte Puffmutter, dachte Ly. Ihre Haare waren zu einem pompösen Dutt drapiert, der Lippenstift zu pink, das Make-up zu dick aufgetragen.
»Was stehen Sie da noch rum? Ich hab gesagt, wir sind voll.« Sie zog den Jungen weg und wollte die Tür schließen. Ly hielt sie mit dem ausgestreckten Arm auf.
»Sind Sie etwa taub?«
Ly fragte sich, ob er wirklich wie ein Wanderarbeiter aussah.
»In Ordnung«, gab sie nach. »Die Jungs da oben können ja ein bisschen zusammenrücken. Platz für eine Matte finden Sie schon noch. Das Klo und den Wasserhahn müssen Sie sich mit den anderen teilen. Und denken Sie bloß nicht, dass Sie hier kochen können. Essen Sie gefälligstdraußen. 8 000 Dong die Nacht. Sie zahlen jeden Morgen im Voraus.«
»Ein bisschen teuer, oder?« Ly konnte nicht anders, als sie zu provozieren.
»Werden Sie bloß nicht frech. Wollen Sie den Platz nun oder nicht?«
»Ich suche keine Bleibe.«
»Ach, und was wollen Sie dann?« Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn.
Er zog seinen Dienstausweis heraus und hielt ihn ihr unter die Nase. »Ich suche eine gewisse Nguyen Thi Bich Hoa.«
»Wer soll das sein?«
»Ein Mädchen, etwa zwölf Jahre alt. Eine der Wanderarbeiterinnen, die da oben bei Ihnen hausen.«
»Die kommen und gehen. Ihre Namen kenne ich nicht.«
Ly zog das Foto aus seiner Hemdtasche und zeigte auf die jüngere Schwester. Die Frau schüttelte den Kopf. Ly machte sich zunehmend Sorgen um dieses Mädchen.
»Und was ist mit dem älteren Mädchen auf dem Foto? Nguyen Thi Bich Sinh?«
»Die wohnt auch nicht hier.«
»Kann sie auch nicht. Sie ist tot.«
Die Frau schaute Ly durchdringend an, betrachtete dann das Foto noch einmal etwas aufmerksamer, verneinte aber erneut.
»Wieso haben die Mädchen dann Ihre Adresse hier als Postanschrift angegeben?«
Die Frau warf den Kopf in den Nacken und lachte, fast hysterisch. Das verwirrte Ly vollends.
»Hier kann jeder seine Post hinschicken lassen«, sagte sie. »Wir sind so etwas wie ein Postfach.« Mit der flachen Hand klopfte
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