Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
weiter. Heute beim Frühstück würde er mit ihr sprechen.
Er sammelte die dreckige Wäsche ein, die überall herumlag, stopfte sie im Hof in die Waschmaschine und ging dann auf die Straße, um xoi , Klebreis, zu kaufen, mit grüner Bohnenpaste für Huong und mit gesalzenem Erdnusspulver für sich. Noch hatte der Berufsverkehr nicht begonnen. Das morgendliche Hanoi roch nach Blättern und Blüten, nicht nach Benzin. Alles war ruhig, obschon die Straße voller Menschen war. Einige joggten, andere gingen einfach nur schnell und ruderten dabei mit den Armen. Mehrere alte Leute hatten sich zum Tai-Chi zusammengefunden. Sie fochten mit unsichtbaren Gegnern. Junge Männer stemmten Gewichte. Ly dachte daran, wie wenig er selbst für seinen Körper tat. Früher hatte er täglich Vovinam trainiert, eine vietnamesische Form des Kampfsports. Seit dem Tod seines Vaters vor ein paar Jahren hatte er es jedoch schleifen lassen. Das war wohl seine Form der Rache, auch wenn es kindisch war. Vovinam war in seiner Familie Tradition, weitergegeben von Generation zu Generation. Sein Vater hatte als Soldat, der er fast zeitlebens gewesen war, sogar einer Kampfsporteinheit angehört. Seine Söhne hatte er dementsprechend gedrillt. Das Motto, das er ihnen einbläute, lautete: »Jeder Schlag muss töten.« Sie mussten sich inBrennnesseln abrollen und auf Schotter fallen lassen, bis sie bluteten. Ihre Schuhe mussten immer sprungbereit vor dem Bett stehen, damit sie im Falle eines Angriffs sofort losrennen konnten. Vergaßen sie es, weckte er sie mitten in der Nacht und ließ sie Liegestütze machen. Ly war immer froh gewesen, wenn sein Vater wieder im Krieg verschwand.
*
Ly wollte gerade Huong wecken, als sein Telefon klingelte.
»Hier Anh Diep, Fotograf der Firma AsiaFoto. Die Zentrale des Präsidiums war so freundlich, mir Ihre Mobilnummer zu geben. Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.«
»Worum geht es denn?«, fragte Ly. Dieser Anh Diep drückte sich für seinen Geschmack zu umständlich aus.
»Ich habe ein Foto. Ich denke, es ist die Tote vom Tempel.«
»Was?« Ly spürte die Aufregung, die ihn ergriff. Das wäre der erste wirkliche Hinweis auf die Identität der Toten. »Können wir uns treffen? Gegen elf?« Bevor Ly irgendwo hinging, wollte er mit Huong sprechen. Diesmal würde er es nicht wieder aufschieben.
»Ich muss nach Bac Giang, zur Hochzeit einer Nichte«, entschuldigte sich der Mann. »Bis kurz nach neun arbeite ich. Sie finden mich am Ausgang vom Ho-Chi-Minh-Mausoleum. Ich fotografiere dort die Besucher.«
Ly seufzte. Er stellte Huong den Klebreis auf ein Tablett, streichelte ihr noch einmal über die Haare und machte sich auf den Weg.
*
Ly mochte den Ba-Dinh-Platz, auf dem das Mausoleum stand. Es war eine weite, baumlose Fläche mit genügend Platz für 200 000 Menschen. Ho Chi Minh hatte dort am 2. September 1945 die Unabhängigkeitserklärung verlesen. Abends fuhr Ly manchmal dorthin. Das Mausoleum allerdings hatte er seit Jahren nicht betreten. Das letzte Mal musste es bei einer Pflichtveranstaltung der Polizeiakademie gewesen sein. Es war ein Monument aus Granit und Marmor, ein Quader mit kantigen Säulen, hoch erhoben auf einem Treppenpodest.
Kurz überlegte er, ob er versuchen sollte, mittels seines Polizeiausweises direkt auf das Gelände hinter dem Mausoleum zu gelangen. Mit einem Blick auf die stahlharten Mienen und heruntergezogenen Mundwinkel der Ordnerinnen verzichtete er darauf. Es würde vermutlich mehr Zeit und vor allem Nerven kosten, mit diesen Drachen zu diskutieren, als einfach anzustehen und den regulären Weg durch das Mausoleum zu nehmen.
Er hatte keine Tasche bei sich, ließ also die Gepäckabgabe links liegen und stellte sich direkt in der Schlange an. Vor ihm stand eine Großfamilie. Die Älteren unter ihnen traten rastlos von einem Bein auf das andere. Ihre Kleidung war zerschlissen, doch Ly hatte den Eindruck, dass sie ihre besten Stücke trugen. Davor wartete eine Veteranengruppe, Greise mit Orden auf der Brust ihrer billigen Hemden, die Füße in Plastikschlappen. Wohlhabende Städter sah Ly nicht. Hinter Ly schlossen mehrere Dorfmädchen der Thai-Minderheit auf. Sie hatten Rouge aufgelegt und trugen ihre Festtagskostüme, lange schwarze Wickelröcke mit breitem grünem Gürtelband und enganliegende violette Oberteile mit einer Leiste aus silberfarbenenKnöpfen. Sie kicherten und schubsten sich gegenseitig. »Ruhe«, herrschte einer der einfachen, grün uniformierten Wachsoldaten sie
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