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Schwarze Schmetterlinge

Schwarze Schmetterlinge

Titel: Schwarze Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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konnte zwei ganze Tage dauern, ehe sie den Brief in der Hand hielt, und weitere zwei Tage oder sogar mehr, wenn es ein Wochenende war, bis die Antwort da war. Da wollten die Worte wohlüberlegt sein. Denn die ersehnten Zeilen würden wieder und wieder gelesen werden und dann in den Schatz von Liebesworten in Gedichten und zärtlicher Prosa eingehen.
    Das dachte Stig Julin, der jetzt Gertrud zum ersten Mal wieder treffen würde, seit sie sich im Sommer auf dem überregionalen Seniorenfest im Gemeindehaus von Sandviken kennengelernt hatten. In seinem Eifer, sie wiederzusehen, stieg er eine Haltestelle zu früh aus. Der Bus bog wieder auf die Straße und verschwand hinter einem baufälligen Schuppen.
    Sehr schnell bemerkte er sein Versehen. Der nächste Bus würde frühestens in drei Stunden gehen. Das Handy, das seine Tochter ihm aufgezwungen hatte, lag im Innenfach der Ledertasche. Einen Moment lang erwog er, ein Taxi zu rufen, doch dann entschied er sich anders. Wenn er dem Ufer folgte, dann würde er schnell da sein, und es war wunderbares Spazierwetter. Glücklich wie ein kleiner Junge, der an nichts anderes denkt als an die Gegenwart, das lustvolle Stapfen durch die Ahornblätter, pflügte er mit seinen glänzenden Schuhen durch ein Meer intensiv leuchtender Farben – Blutrot, Rostrot, Gelb und Grün. Das Laub wirbelte vor ihm auf, tanzte im Wind, und er hörte Musik und schwang im Takt zu »Eine kleine Nachtmusik« so gut es ging die Tasche und den Stock.
    Dass man mit zweiundachtzig so glücklich sein kann, musste er wieder denken. Dass er die Gnade erfuhr, noch ein letztes Mal das Wunder erleben zu dürfen, das die Verliebtheit bedeutete. Stärker als früher, denn die Zeit ist so kurz und so kostbar, wie wenn ein Soldat mit seiner Frau schläft, ehe er in den Krieg hinausgeschickt wird. Als würde man lieben, um den Tod in die Schranken zu weisen.
    Das Gehen war anstrengender, als er zunächst gedacht hatte. Auch wurde er nervös, wenn er daran dachte, dass er vielleicht Gertrud anrufen und ihr sagen sollte, dass er sich verspäten würde. Sie hatten immer noch nicht miteinander telefoniert. Da gab es ein Hindernis – sein Gehör war nicht mehr das, was es einmal war. Er fürchtete, Dinge falsch zu verstehen und so von Anfang an einen schlechten Eindruck zu machen. Er spürte einen Druck auf der Brust, nahm eine Tablette aus der Jackentasche und legte sie unter die Zunge. Und dann musste er pinkeln, obwohl er kurz zuvor im Bus noch auf der Toilette gewesen war. Nerven, das waren nur die Nerven. Aber im Alter von über achtzig Jahren sollte man solche Kinderkrankheiten eigentlich langsam abgelegt haben. Da sollte man gelernt haben, dass neunzig Prozent von dem, was man fürchtete, niemals eintraf, dass aber stattdessen andere und unerwartete Dinge geschahen, auf die man nicht vorbereitet war.
    Er sah sich nach einem passenden Gebüsch um. Die Not kennt kein Gesetz. Auf den Stock gestützt, lehnte er sich vor und ließ Wasser. Als er den Reißverschluss wieder hochziehen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches und Nachgiebiges. Stig verlor das Gleichgewicht und fiel, ohne sich festhalten zu können, ins Laub und blieb liegen. Die Goldkronen der Bäume, die hoch droben vor dem klarblauen Himmel schwankten, das Laub, das seinen Griff um die Äste der Bäume lockerte und sachte auf sein Gesicht niedersegelte, der Schmerz in der Brust, der harte Schlag des Herzens – das alles war so erstaunlich deutlich. Das Geräusch des Windes klang fast wie ein Trauergesang. Das Birkenlaub fiel wie große Goldmünzen zu Boden, ohne dass er einen Versuch unternahm, aufzustehen. Eine Goldmünze, um über den Styx fahren zu können, eine Goldmünze für den Fährmann, dachte er. War es jetzt an der Zeit?
    Er fühlte nach, ob er den Körper bewegen und die Beine heben konnte. Es schien nichts gebrochen zu sein. Auf einmal sah er die Hand, die weiße Menschenhand, die aus dem Müllsack unter dem Laubhaufen herausragte. Die mit Ringen verzierte Hand einer Frau. Er nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Erst dachte er, es müsse ein Scherz sein, es handle sich um eine Schaufensterpuppe oder eine Art Attrappe. Die weißen Finger waren eiskalt und weich, als er sie berührte. Eine Menschenhand in einem schwarzen Müllsack. Für so etwas gibt es keine natürliche Ursache. Er kam zu dem Schluss, dass er die Polizei rufen musste.
    Ohne an sein Handy zu denken, stolperte Stig Julin, so schnell er es trotz

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