Schwarze Schmetterlinge
Steinen und Wurzeln schaffte, zur Straße hinauf. Wenn er es schaffen würde, ein Auto anzuhalten, dann würde er sich zum Polizeirevier bringen lassen. Er würde als Zeuge bestellt werden. Da könnte er Gertrud aber was erzählen. Er würde fast ein Held werden und in die Zeitung kommen. Nein, solche Gedanken über seinen eigenen Ruhm durfte er nicht hegen, wenn der arme Mensch da hinten tot war. Weg damit. Das Herz schlug schwer in der Brust. Es tat bis in den linken Arm hinein weh. Weit entfernt war ein rotes Auto zu sehen. Es näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Wenn er es nur bis zur Straße schaffte, wenn er sich nur bemerkbar machen konnte. Stig Julin ließ den Stock fallen und versuchte, mit den Armen über dem Kopf zu winken, als er über den eingewachsenen Graben stieg. Der Schmerz in der Brust raubte ihm den Atem. Das Auto schien ein wenig langsamer zu werden, kam jetzt ganz nah und fuhr vorbei. Er sah es hinter der nächsten Ecke verschwinden. Der Druck auf der Brust ließ etwas nach, war aber immer noch da. »Pass auf dich auf, Papa. Wenn du Probleme mit dem Herzen hast, dann benutz das Handy. Du weißt doch jetzt, wie es funktioniert, oder? Ich habe es dir schon ein paar Mal gezeigt.« Er suchte danach in der Tasche. Die Schachtel mit gefüllten Pralinen für Gertrud war an der einen Ecke eingedrückt, sodass das Geschenkband abgerutscht war.
Er nahm noch eine Tablette. Da war das Telefon. Ein großes und anständiges Modell, das er von seinem Enkel geerbt hatte, der sich schämte, mit so einem Uraltmodell in der Schule aufzukreuzen. Erst musste man den Knopf drücken, auf dem »No« stand, und dann die Notrufnummer. Wie war die noch? Richtig, 112, das war die Nummer. 112. Er wählte und wartete, aber nichts passierte.
Der Schmerz in seinem Brustkorb wurde zu einem Krampf, der durch den ganzen Körper ging und die Kehle zusammenschnürte. Jetzt bekam er richtig Angst. Es bohrte und riss in der Brust. Das Handy fiel zu Boden. Er konnte nicht länger aufrecht stehen. Es gab noch einen Knopf, den man drücken musste. Richtig, nach der Nummer sollte man »Yes« drücken. So war es. Jetzt gab es einen Ton. Besetzt. Er wartete. Durch den Schmerz in der Brust schossen ihm die Tränen in die Augen. Noch nie zuvor hatte er einen derartigen Schmerz erlebt. Er dachte an Gertrud. Gertruds liebevolle Art, ihren weißgelockten Kopf zu schütteln. Nein, wie verrückt das alles ist, würde sie sagen und den Kopf schütteln. Liebevoll – ein ausgezeichnetes Wort, um Gertrud als Person zu beschreiben. Das Licht kam und ging vor seinen Augen. Er versuchte, seine Gedanken bei Gertrud zu halten.
»Notrufzentrale«. Stig Julin riss sich zusammen. Stellte sich ordnungsgemäß vor und beschrieb, wo er sich befand. Der Schmerzensschrei kam aus seiner eigenen Kehle. Er hörte es, und im selben Moment zerbarst etwas und wurde zu einem roten Nebel, einer Dunkelheit, in der der Schmerz seine Kraft verlor.
Gertrud Nilsson sah auf die Uhr. Bald würde er da sein. Sie hatte im Wohnzimmer gedeckt, mit weißem Tischtuch und Vogelbeerenzweigen in einer himmelblauen Vase. Ihre Hände hatten den Stuhl gestreichelt, auf dem er sitzen würde, ihn schon im Vorhinein willkommen geheißen. Hier an meinem Tisch wirst du sitzen. Bei mir.
Ihre Wangen glühten. Sie brauchte nicht in den Spiegel zu sehen, um das zu wissen. Den blauen Rock und die weiße Bluse hatte sie auch auf dem Fest im Gemeindehaus getragen, als sie sich kennengelernt hatten. Sie sah wieder auf die Uhr. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt. Im Radio wurde von den schlimmen Mordbränden in Örebro gesprochen. Es kam nie etwas anderes als Elend, das ganze Elend der Welt direkt ins Wohnzimmer. Als ob Glück, Liebe, Freundschaft – all das Gute, das Menschen einander tun – von geringerem Wert wäre. Hatte das Böse so viel Aufmerksamkeit verdient? Wenn die Wirklichkeit so aussah, wie die Medien sie zeichneten, dann würde doch niemand leben können, dachte Gertrud. Aber das Bild in den Medien war falsch, denn ihm fehlte die andere Hälfte. Die gute.
Heute habe ich meine Rente bekommen, das Rentensystem funktioniert. Heute Morgen ist mein Enkel in die Schule gegangen und hat sich darauf gefreut, denn er mag seine Lehrerin und seine Freunde, und er hat gelernt, seine Comics selbst zu lesen. Nachmittags wird er vorbeikommen und tausend neue Dinge zu erzählen haben. Heute Morgen haben sie die Mülltonnen geleert, und gestern kam die Nachbarin mit einem Korb Pfifferlinge
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