Schwarze Seide, roter Samt
Empfänger
nicht vor heute mittag auszuhändigen. Catlina blickte auf ihre
Uhr. Fast halb eins. Sie seufzte und schaute hinaus in den wolkenlosen
blauen Himmel. Manchmal hätte sie auch Lust auf das
schöne reiche Leben gehabt. Obwohl sie inzwischen wußte,
wieviel Lug und Trug dahinter steckte. Alles nur Fassade. Marbella,
Torremolinos die Welt kannte nur die schöne Seite, jene,
über welche die Klatschspalten der Zeitungen so gern und ausführlich
berichteten. Niemand sah den anderen Teil, den weniger
glanzvollen: die Scharen von Mädchen aus ganz Europa, die
jedes Jahr an die Costa del Sol kamen, um ihr Glück zu machen,
die aufgeputzt an den Häfen saßen und auf die Yachten der
Reichen warteten, die bereit waren, sich dem nächstbesten Mann
an den Hals zu werfen, der nach einem dicken Scheckheft und
einer gut gefüllten Brieftasche aussah. Die wenigsten fanden, was
sie suchten. Eine Liebesnacht, ein Geschenk, ein letzter Kuß
und schon waren sie nur noch eine namenlose, blasse Erinnerung
für den übersättigten Kerl, der sie gekauft hatte. Sie wurden
wieder an Land gespült, hatten dann aber Blut geleckt, versuchten
alles, um in Marbella bleiben zu können, schlugen sich um
jeden noch so miesen, schlechtbezahlten Job, hielten sich
schlecht und recht über Wasser, gierten weiterhin nach Männern,
wurden wie die mageren Katzen, die um die Hotels herumstrichen
und nach Abfällen suchten, von Jahr zu Jahr hemmungsloser
und verzweifelter. Solange sie sehr jung und sehr hübsch
waren, hatten sie eine Chance, aber irgendwann kamen andere
nach, jünger und hübscher und unverbrauchter. Wenn man
Glück hatte, landete man hinter der Rezeption eines Hotels, so
wie Catlina, die aus dem trockenen, heißen, staubigen Aragonien
gekommen war, vor zehn Jahren, und gehofft hatte, reich zu
heiraten und ein sorgloses, gesellschaftlich glanzvolles Leben zu
führen. Andere hatten Alkohol und Drogen kennengelernt und
blieben daran hängen. Und manche sah man nie wieder, sie
verschwanden spurlos, und es gab kein Lebenszeichen mehr. Die
Geschichten, die sich um die Verschollenen rankten, waren nicht
bloß Schauermärchen. Es gab sie, die arabischen Bordelle, in
denen Mädchen aus dem Westen festgehalten und gegen ihren
Willen zur Prostitution gezwungen wurden. Mädchen, die sich
ein phantastisches Leben erhofft hatten, dann aber plötzlich
gekidnappt und verschleppt worden waren.
Die armen Dinger! Catlina seufzte noch einmal. Sie strich sich
die blonden Haare zurück und warf einen Blick in den Spiegel,
der sich gegenüber der Rezeption befand. Das war es eben:
Wenn Frauen älter wurden, verloren sie an Reiz. Zumindest den
Reiz, an dem die Männer hingen, die sich Gespielinnen für eine
Nacht suchten. Eine Lolita müßte man sein, den Zauber ewiger
Jugend für alle Zeiten gepachtet haben.
Aber eigentlich hatte sie es noch recht gut getroffen. Wenn man
überlegte, was sonst alles auf der Welt geschah
Es war gegen drei, als Marions Vater beschloß, die Polizei zu
informieren. Er war den ganzen Strand entlanggelaufen, weil er
immer noch glaubte, daß sich Marion und Corinna vielleicht
irgendwo einen anderen Liegeplatz gesucht hatten, aber natürlich
hatte er sie nirgendwo gesichtet. Dafür strahlte die Sonne heute
besonders erbarmungslos vom Himmel, es war so heiß, daß
niemand einen Schritt tat, wenn er es nicht unbedingt mußte.
Selbst die unermüdlichsten Ballspieler und Tischtennisfans im
Hotelgarten hatten kapituliert. Herr Rönsch vertrug Hitze
schlecht. Seine Laune war miserabel, als er zu seiner Frau zurückkehrte.
»Die kann was erleben, wenn sie wiederkommt«,
drohte er. »Ich möchte weiß Gott nicht in ihrer Haut stecken!«
»Reg dich nicht auf! Du weißt, wie die Mädchen in dem Alter
sind!«
»Ich reg mich aber auf. Was sie uns da zumutet, ist eine wirklich
bodenlose Unverschämtheit!«
»Vielleicht ist sie nach Malaga gefahren. Zusammen mit dieser
Corinna, denn die treibt sich heute ja offenbar auch nirgends hier
herum. Wahrscheinlich machen sie dort einen Einkaufsbummel!«
»Kein Grund, uns nicht Bescheid zu sagen, oder?«
»Im Grunde sagt uns Marion schon lange nichts mehr. Ich weiß
zwar nicht, warum sie uns so ängstigen möchte, aber ich traue ihr
einiges zu!« Marions Vater gehörte zu jenen Männern, die ihre
Töchter ewig unterschätzen, weil sie nicht glauben können, daß
sie es wirklich wagen würden, so mit ihnen
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