Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Suchen. Trotzdem stieg er aus dem Wagen und wanderte durch das feuchte Gras. Seltsame Stelle, um es abzulegen, dachte er. Irgendwie versteckt, hinter diesem grauen Steinklotz, andererseits aber so dicht bei den Häusern, daß es bald gefunden werden mußte. Das alles hatte etwas Achtloses. Wenig Durchdachtes. Es kam ihm vor wie eine Art Flüchtigkeitsfehler.
*
»D U HAST MIT Tomme Rix gesprochen«, sagte Sejer. »Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«
Skarre sah Tomme vor sich.
»Ein ganz normaler Achtzehnjähriger«, meinte er. »Ein wenig unsicher vielleicht. Fährt sofort die Stacheln aus. Und alles, was passiert ist, macht ihm arg zu schaffen.«
»Nichts, was deine Neugier geweckt hat?«
»Doch«, räumte Skarre ein. »Er ist ein bißchen schusselig.«
»Wie meinst du das genau?« fragte Sejer geduldig.
»Am 1. September wollte er einen Bekannten besuchen«, sagte Skarre. »Bjørn. Später an dem Abend wollte er auf die Autobahn und ein bißchen Gas geben. Dabei ist ihm dieser Unfall im Kreisverkehr passiert. Als ich fragte, was er danach gemacht habe, sagte er: Ich bin zurück zu Willy gefahren. Das war wie eine Art Versprecher«, sagte Skarre. »Vermutlich ist er die ganze Zeit bei Willy gewesen. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«
»Seine Mutter ist sehr gegen diese Freundschaft«, fiel Sejer ein.
»Dann hat er sie vielleicht belogen. Und kriegt seine Schwindeleien im Nachhinein nicht mehr ganz in den Griff. Hast du dich genauer nach diesem Autounfall erkundigt?«
»Ja. Ich habe mir die Stelle angesehen«, sagte Skarre. »Ich dachte, wenn er da eine Beule kassiert und ziemlich viel Lack eingebüßt hat, dann muß die Leitplanke Spuren aufweisen. Und das tut sie auch.«
»Gut.« Sejer nickte. »Dich kann niemand als schusselig bezeichnen«, sagte er lächelnd.
Beide schwiegen.
»Was in aller Welt hat er nur mit ihr gemacht?« fragte Sejer nach langem Nachdenken. »Sonst finden wir sie doch immer. Und zwar schnell. Nach einigen Stunden. Oder am nächsten Tag. Wir wissen, daß sie rasch vorgehen. Zwei Stunden«, sagte er. »Das ist der übliche Zeitraum. Für Entführung. Vergewaltigung. Mord. Und am Ende für die Aufgabe, sich des Leichnams zu entledigen. Sie stehen unter Druck. Die Verstecke sind selten sorgfältig ausgesucht. Sie raffen ein paar Zweige zusammen oder heben in aller Eile eine Grube aus, aber dazu müssen sie dann auch einen Spaten zur Hand haben.«
»Angenommen, er wartet«, sagte Skarre. »Vielleicht ist in diesem Fall alles anders.«
»Wie meinst du das jetzt?« fragte Sejer.
»So denken wir doch. Sie bringen sie um und schaffen den Leichnam in aller Eile beiseite. Wenn er sich nun aber nicht beeilt. Sondern sie bei sich behält, irgendwo, in einem Haus. Einem Haus, das sonst niemand aufsucht.«
Sejer nickte.
»Ja«, sagte er. »Das ist natürlich eine Möglichkeit. Aber die Natur geht ihren Gang«, sagte er. »Es ist nicht leicht, abends schlafen zu gehen, wenn unter demselben Dach der Leichnam eines kleinen Mädchens liegt.«
»Aber hier ist ja nicht die Rede von einem normalen Menschen«, wandte Skarre ein.
»Aber sicher doch«, sagte Sejer. »Er ist in fast jeder Hinsicht genau wie wir. Ich bin froh, daß Helga Joner uns jetzt nicht hören kann«, fügte er hinzu.
»Sie hört uns bestimmt«, sagte Skarre niedergeschlagen. »In ihren Albträumen.«
Sejer holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser.
»Was ist mit dem Rad?« fragte Skarre hoffnungsvoll. »Ich dachte, das könnte uns weiterhelfen.«
»Daran war nichts zu entdecken«, sagte Sejer resigniert. Er trank ein paar Schluck Wasser. »Wenn ich richtig tippe, dann finden wir sie bald.«
Er schaute seinen jüngeren Kollegen mit tiefem Ernst an.
»Helga Joner wird alles wissen wollen. Sie wird die Details verlangen, jedes einzelne. Du hast einen Gott«, sagte er. »Also solltest du beten. Dafür, daß die Leiche noch immer wie Ida aussieht, wenn wir sie finden.«
*
R UTH DRÜCKTE LANGSAM auf die Türklinke. Danach stand sie vor dem Türspalt und schaute auf Tommes Hinterkopf. Der lag bewegungslos auf dem Kissen. Tomme atmete regelmäßig, aber zu leicht, fand sie. Er wollte nicht verraten, daß er in Wirklichkeit wach war. Nicht daß sie fand, er sei dazu verpflichtet, sich jederzeit mit ihr zu befassen oder ihr immer das zu geben, was sie verlangte. Er war schließlich in dem Alter, in dem er sich losreißen und seinen eigenen Kurs abstecken mußte. Sie konnte ihn dabei nicht
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