Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
sie. Und sieht so müde aus. Sie öffnete das Fenster. Ihre Gedanken jagten in alle Richtungen auseinander. Ihr Sohn war jetzt immer so still. Viel schweigsamer als früher. Das war Marion auch, aber bei ihr war es anders. Marion konnte über Ida reden, aber wenn Ruth das Thema Tomme gegenüber anschnitt, dann wich er aus. Er hat wohl keine Worte, dachte sie. Was sollte er auch sagen? Und warum will er plötzlich soviel mit Willy zusammensein? Was verbindet die beiden? Sie nahm den sauren Biergestank wahr und empfand eine tiefe Ohnmacht. Aber er ist achtzehn, dachte sie. Er ist erwachsen. Er darf sich im Laden Bier kaufen. Heute nacht hat er eins über den Durst getrunken, aber das passiert doch allen mal. Warum mache ich mir solche Sorgen? Weil Ida verschwunden ist, dachte sie. Nichts ist so, wie es sein sollte.
Sie ging wieder nach unten.
Sverre saß mit einer Landkarte auf dem Sofa. Er drehte und wendete sie, tippte Madseberget an, wo sie wohnten, und schaute zu Ruth hoch.
»Tomme kann sich heute jedenfalls am Suchen nicht beteiligen«, sagte sie mit resigniertem Lächeln, denn sie wußte nicht, wie sie sich sonst verhalten sollte. »Er bleibt sicher noch den halben Tag im Bett.«
»Ich habe ihn gehört«, sagte Sverre und nickte. »Er ist auf der Treppe mehrmals gestolpert. Ich nehme an, sie haben den Wagen fertig. Und darauf wollten sie bestimmt anstoßen.«
»Ja«, sagte Ruth und setzte sich. Es gefiel ihr nicht, daß ihr Sohn im Bett lag, während die ganze Nachbarschaft nach seiner Kusine suchte. Sogar seine Freunde waren dabei, Bjørn und Helge. Was die sich wohl dachten? Sie sah Sverre an.
»Du redest doch mit ihm?«
Sverre schaute wieder von der Karte hoch.
»Ja, ja.« Er setzte die Brille ab und legte sie auf den Tisch. Sverre Rix war blond und kräftig, keines seiner Kinder hatte Ähnlichkeit mit ihm, dachte Ruth.
»Aber was soll ich ihn eigentlich fragen?«
»Du sollst ihn nichts fragen«, sagte sie rasch. »Sprich einfach mit ihm über alles, was passiert ist. Er hat sicher auch das Bedürfnis, darüber zu reden.«
»Nicht alle Menschen wollen um jeden Preis über alles reden«, meinte Sverre und faltete die Karte zusammen. »Nicht alle können ihre Probleme auf diese Weise lösen.«
»Das sollten sie aber«, sagte Ruth wütend.
Sverre musterte sie forschend. »Was ist los?« fragte er leise.
Sie starrte auf ihren Schoß, auf ihre Hände, und sie hörte, wie die Gedanken wie ein Bienenschwarm durch ihren Kopf jagten. Ihr wurde geradezu schwindlig davon.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie, ebenso leise wie er.
Danach schwiegen sie lange, und Sverre starrte die Tischplatte an, während Ruth immer wieder ihren Ehering umdrehte. »Er betrinkt sich sonst nicht«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, sagte Sverre. »Aber es kommt nun mal vor. Ein seltenes Mal. So einfach ist das. Worauf willst du hinaus?«
Wieder spielte sie an ihrem Ring herum. »Ich denke an den Wagen«, sagte sie.
»Warum denn?« fragte er verständnislos.
Das konnte Ruth nicht erklären. Aber sie dachte an die Nacht des 1. September, als sie im Wohnzimmer gesessen und gewartet hatte. Sie dachte an seine Schritte, als er dann endlich gekommen war, er hatte sich die Treppe fast hochgeschlichen. Sie sah seinen Rücken vor sich, als sie die Tür geöffnet hatte, und sie hörte seine gepreßte Stimme.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
*
N EUN T AGE INTENSIVER Suche hatten kein Ergebnis gebracht. Sejer wußte, daß sie sie bald einstellen würden. Die Hoffnung schwand. Sie suchten nicht mehr mit demselben Eifer. Sie ließen sich mehr oder weniger treiben, sie plauderten, inzwischen über ganz andere Themen als Ida und das, was ihr passiert sein könnte. Sie wirkten jetzt eher normal, sie waren nicht mehr so konzentriert, und weil die Hoffnung, Ida zu finden, fast geschwunden war, brachten manche sogar ihre Kinder mit. So haben sie wenigstens das Gefühl, dachten die Erwachsenen, daß sie auf ihre Weise geholfen haben.
Es war kurz vor acht am Abend des 9. September. Sejer schnürte sich die Turnschuhe zu und streifte sich eine Reflexweste über. Seine Tochter Ingrid hatte die gekauft. Sie war eigentlich für Reiter bestimmt, und der Rücken trug folgende Beschriftung:
Please pass wide and slow. Kollberg blieb im Wohnzimmer. Er schaute ihm enttäuscht hinterher, rappelte sich aber nicht auf. Die gelbe Weste bedeutete Geschwindigkeit, und dazu war Kollberg nicht mehr in der Lage. Er gähnte ausgiebig und ließ den Kopf wieder
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