Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
auf seine Pfoten sinken.
Sejer lief schneller als sonst. Er dachte: Wenn ich mich heute abend ein wenig mehr quäle als sonst, dann wird sich das bezahlt machen. Er dachte an Idas Rad, das von der Technik auseinandergenommen wurde. Auf den ersten Blick war nichts zu sehen gewesen. Keine Schrammen, keine Blutspuren, nichts. Das Rad schien ganz einfach unberührt von allem, was Ida vielleicht widerfahren war.
Zwei Kinder kamen ihm entgegen. Zuerst reagierte er verblüfft darauf, daß sie allein unterwegs waren. Dann entdeckte er ein Stück hinter ihnen eine Erwachsene. Sie behielt die beiden im Auge. Die Kinder trugen eine Tüte. Jetzt hielten sie an und nahmen etwas heraus. Steckten es in den Mund. Zwei Kinder mit einer Tüte voll Süßigkeiten. Warum waren sie so unersättlich? Auch Ida war unterwegs zum Kiosk gewesen. Sejer runzelte resigniert die Stirn. Diese Kioskbesitzerin, Laila Heggen, hatte gesagt, Ida sei niemals dort angekommen. Warum hatten sie sich mit dieser Aussage einfach zufriedengegeben? Unbewußt hatte er sein Tempo gedrosselt, jetzt steigerte er es wieder. Aber klar. Sie hatten ihr geglaubt, weil sie eine Frau war. Noch dazu eine sympathische Frau. Aber war sie deshalb auch automatisch glaubwürdig? Warum hatten sie weniger als fünf Minuten auf diesen Menschen verwendet, zu dem Ida doch immerhin unterwegs gewesen war? Wie viele Dinge dieser Art, angelernte Vorstellungen, prägten ihre Ermittlungen? Viele, vermutlich. Weder er selbst noch Skarre waren bisher auf den Gedanken gekommen, sich diese Laila Heggen einmal näher anzusehen. Wenn der Kiosk einem Mann gehört hätte, möglicherweise einem, der schon einmal wegen eines Sittlichkeitsverbrechens vorbestraft oder zumindest in Verdacht geraten war, vielleicht schon vor langer Zeit, was hätte der sich dann alles gefallen lassen müssen? Sejer lief jetzt noch schneller. Verbissen, weil er erwacht war. Auch eine Frau konnte es auf Kinder abgesehen haben. Eine Frau, die jeden Tag hinter ihrem Tresen im Kiosk stand und Süßigkeiten aus Regalen und Krügen nahm. Gummibärchen, Schokoladenmäuse und Lakritzschnecken. Während sie diese Kinder ansah, ihre roten Wangen und leuchtenden Augen.
Er lief anderthalb Stunden lang. Später verließ er die Dusche und fühlte sich obenauf, warm und ruhig, wie man sich nach einer Trainingsrunde eben fühlt. Es war fast elf Uhr abends, also eigentlich viel zu spät für einen Besuch. Trotzdem fuhr er zu Helgas Haus. Er wußte, daß sie ihm aufmachen würde.
»Ich habe nichts zu erzählen«, sagte er rasch. »Aber wenn Sie wollen, können wir uns ein wenig unterhalten.«
Sie trug noch immer ihre Strickjacke. Nur der oberste Knopf war geschlossen. Den unteren Teil hielt sie mit der Hand zusammen. Es sah aus, als wolle sie eine offene Wunde zusammenhalten.
»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie für so etwas Zeit haben«, sagte sie. Sie standen jetzt im Wohnzimmer.
Er fragte sich, ob sie meinte, er hätte lieber die Straßen nach Ida absuchen sollen. Oder ob in ihrer Bemerkung auch Dankbarkeit zum Ausdruck kam. Es war schwer, das sicher zu wissen. Sie sprach mit tonloser Stimme.
»Was ist mit Anders«, fragte Sejer vorsichtig. »Ist er viel hier?«
»Nein«, sagte sie kurz. »Jetzt nicht mehr. Ich habe ihm gesagt, das sei nicht nötig. Er beteiligt sich ja an der Suche«, fügte sie hinzu. »Jeden Tag.«
»Das weiß ich«, erwiderte Sejer. Er dachte daran, was Holthemann sagen würde, bei der Besprechung am nächsten Morgen. Sie würden die Suche einstellen. Er sagte es nicht laut.
»Heute habe ich mich auf den Boden gelegt«, sagte sie. »Ich habe mich einfach auf den Boden gelegt. Es hätte nichts gebracht, mich aufs Sofa zu legen. Oder aufs Bett. Ich legte mich einfach auf den Teppich und atmete aus und ein. Das war alles. Es hat gutgetan. Wenn man auf dem Boden liegt, kann es nicht noch weiter abwärts gehen.«
Sejer hatte Helga sein rechtes Ohr zugewandt.
»Ich habe im Teppich herumgekratzt«, sagte sie jetzt, »und dann fand ich plötzlich etwas Rundes und Glattes. Ein Smartie.«
Er schaute sie fragend an.
»Ein Smartie«, wiederholte sie. »So eine mit Zucker glasierte Schokoladenpastille. Es gibt sie in allerlei Farben. Diese hier war rot, wie der Teppich. Deshalb hatte ich sie übersehen. Und mir ging auf, daß Ida sie einmal verloren haben muß, als sie dort saß, wo Sie jetzt sitzen. Dieses kleine Bonbon hätte mich fast fertiggemacht. Alle Spuren, die ich von ihr finde. So viele kleine Dinge.
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