Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
dieses Moped im Regenunterstand gestanden. Ein Mann hatte sie aus der Ferne beobachtet. Skarre spürte, wie eine beginnende Nervosität sich in seinem Körper ausbreitete. Er schaute zum Haus hinüber und stellte sich vor, daß der, der dort wohnte, bereits den Wagen gehört hatte und ihn jetzt erwartete. Das Haus war klein, zwei Fenster schauten auf die Straße. Es war ein älteres Haus, aus den fünfziger oder sechziger Jahren, und es war ziemlich gut in Schuß. Durch die Vorhänge sah er das gelbe Licht in der Küche. Der Türrahmen war zersplittert, als habe jemand einen Einbruch versucht.
Während er noch hinüberstarrte, überlegte er. War Ida in diesem Haus gewesen? Und wenn ja, würde er das feststellen können? Er klopfte dreimal und wartete. Langsam wurde die Tür geöffnet. Ein Mann starrte durch den Spalt. Er hatte schüttere Haare, war untersetzt und schwer und hatte ein breites, solides Gesicht. Seine Kleidung wirkte altmodisch, ein blau-grün-kariertes Flanellhemd und eine alte Trevirahose. Er trug straffe Hosenträger Marke Levis. Sein Hosenbund war ein gutes Stück über seinen Bauch gezogen. Sein Blick war abweisend, und der Türspalt blieb schmal. Skarre lächelte freundlich.
»Guten Tag«, sagte er. »Jacob Skarre. Hoffentlich störe ich nicht?«
Emil sah die Uniform. Er schaute über seine Schulter zurück ins Haus. Die Worte der Mutter hallten in seinen Ohren wider: Das beste ist, du hältst weiterhin den Mund!
» Nein«, sagte er laut. Seine Stimme klang unerwartet kräftig.
Skarre stieg eine Stufe höher. Der Junge mit dem Skateboard hatte offenbar keine Ahnung gehabt. Natürlich konnte dieser Mann sprechen.
»Sie heißen Emil Johannes Mork?« fragte er und wartete auf ein Nicken. Das kam nicht. Aber der Name stand auf dem Briefkasten, davon hatte Skarre sich schon überzeugt.
»Ich bin hier in der Gegend unterwegs, um ein paar Fragen zu stellen«, sagte er jetzt. »Falls Sie nicht gerade schrecklich beschäftigt sind?«
»Nein, nein«, sagte Emil noch einmal und trat auf der Türschwelle hin und her. Skarre lächelte immer breiter. Der Mann war auf der Hut und sah nicht gerade gastfreundlich aus, aber er sprach. Vermutlich hatte er nur selten Besuch. Er füllte noch immer die ganze Tür aus und schien auch nicht beiseite treten zu wollen.
»Darf ich einen Moment reinkommen?« fragte Skarre deshalb.
Emil starrte zu Boden und zerbrach sich den Kopf. Die Mutter hatte nein gesagt. Nein, laß niemanden rein. Aber er hatte soviel zu erklären. Er wollte und wollte doch wieder nicht. Der Zweifel ließ ihn von einem Fuß auf den anderen treten, und unter seinem Gewicht ächzten die Bodenbretter.
»Es ist ziemlich kalt«, sagte Skarre und deutete mit den Schultern eine fröstelnde Bewegung an. Emil schwieg noch immer. Er verhakte die Daumen unter seinen Hosenträgern und zog daran.
»Schöne Hosenträger«, sagte Skarre mit einem Nicken.
Emil faßte endlich seinen Entschluß und öffnete die Tür richtig. Skarre dankte und ging hinter ihm ins Haus. Sie betraten eine kleine Küche. Die war sauber und ziemlich gut aufgeräumt, aber trotzdem hingen einige unverkennbare Gerüche im Raum. Skarre versuchte, sie zu identifizieren, und fand eine Mischung aus Kaffee, Essensresten, grüner Seife, saurer Milch und dem Schweiß eines älteren Mannes, der nicht allzu oft duschte. Er schaute sich neugierig um, sah den Küchentisch mit der karierten Wachstuchdecke, die künstliche Pflanze auf der Fensterbank, eine rosa Begonie mit schreiend grünen Blättern, den Kalender an der Wand, auf dem ein roter Magnet das aktuelle Datum markierte. 24. September. Emil ging zum Herd. Dort stand ein vor Alter schwarzer Kaffeekessel. Emil machte sich am Deckel zu schaffen. Skarre musterte den breiten Rücken. Emil war kräftig gebaut, aber nicht sehr groß, vielleicht eins fünfundsiebzig. Skarre wollte gerade fragen, ob er sich setzen dürfe, als die Stille in dem kleinen Haus von einem schrillen Schrei zerfetzt wurde. Der Schrei wirbelte durch das Zimmer und endete in einem heulenden, heiseren Crescendo, so unerwartet und fremdartig, daß Skarre herumfuhr. Das Herz hämmerte in seinem Hals, und das Blut jagte durch seine Adern. Der Schrei hallte in der Luft noch lange nach, er war so kräftig, daß Skarre einen deutlichen Druck gegen das Trommelfell verspürt hatte. Für einen Moment geriet er durch diesen Schreck aus dem Gleichgewicht und starrte den Mann am Herd an. Emil zuckte nicht mit der Wimper. Langsam
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